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Belagerung in Saint-Denis

Barbara Wesel, Paris18. November 2015

Sieben Stunden befand sich Saint-Denis nördlich von Paris im Ausnahmezustand. Die Polizei hatte Hinweise, dass sich dort der Terrorist Abdelhamid Abaaoud versteckt halten könnte. Aus Saint-Denis Barbara Wesel.

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Frankreich: Schießerei bei Polizeiaktion in Saint-Denis nahe Paris (Foto: picture alliance/dpa)
Bild: picture-alliance/dpa/MASPPP

Es ist eine surreale Szene im frühen Morgenlicht: Im Rücken die imposante gotische Kathedrale Saint-Denis, zur Rechten das helle Sandsteingebäude des Rathauses, wo ein Banner auf der Fassade die Bürger auffordert, der Bedrohung die Stirn zu bieten. Das ist, was die Anwohner der umliegenden Straßen an diesem Mittwochmorgen unfreiwillig tun: Sie werden Zeugen eines massiven Polizeieinsatzes von 110 Mitgliedern der berühmten Sondereinsatzkräfte RAID, verstärkt durch dutzende Soldaten mit der Maschinenpistole im Anschlag.

Noch in der Nacht hatte die Polizei das gesamte Viertel weiträumig abgesperrt und an allen Zugängen schwer bewaffnete Sicherheitskräfte postiert. Journalisten sammeln sich am Rand der Place Victor Hugo vor einem ein Absperrgitter der Polizei. Ringsherum heruntergelassene Rollläden, das kleine Café de la Mairie am Platz geschlossen, wie alle Läden und Bistrots im Umkreis. Die Situation hat etwas Gespenstisches - eine gespannte Stille liegt über den Kamerateams und den in ihre Laptops hämmernden Reportern. Auf der anderen Seite des leergefegten Platzes Dutzende Einsatzfahrzeuge der Polizei, Krankenwagen, Feuerwehrleute. Hin und wieder laufen Polizisten mit ihren schusssicheren Westen die Rue de la République entlang, eine der Einkaufsstraßen, in Richtung der Rue du Corbillon, wo sich das Versteck der gesuchten mutmaßlichen Attentäter in einem Mietshaus befinden soll.

Alter Vorort mit gemischter Bevölkerung

Saint-Denis ist ein alter Vorort von Paris und heute eine Mischung aus kleinbürgerlichen Vierteln mit Arbeitern und kleinen Angestellten und multiethnischen Häuserblocks, in denen viele Menschen mit Wurzeln in Afrika und dem Maghreb leben. In der jüngeren Vergangenheit sind Studenten hierhergezogen, wegen der billigen Mieten. Anders als die angrenzenden jüngeren Banlieus mit ihren unwirtlichen Betonburgen ist dies eine Stadt voller Läden und Lokale mit durchaus menschlicher Dimension. 130 Nationalitäten leben hier, erzählt der Bürgermeister am Morgen im Radio-Interview.

Frankreich, Saint-Denis nahe Paris, In der Rue de la République: Polizisten, Sanitäter und Feuerwehrleute (Foto: Getty Images)
In der Rue de la République: Polizisten, Sanitäter und FeuerwehrleuteBild: Getty Images/P. Suu

Für eine Terrorzelle mit einer Verbindung nach Belgien liegt das Viertel dabei ideal: In zehn Minuten kann man von hier auf der Autobahn in Richtung Brüssel sein. Und das sozial bunt gemischte Quartier ist unübersichtlich, es gibt viel Fluktuation. Eine der Wohnungen, die bei diesem Polizeieinsatz belagert werden, will der eigentliche Mieter nichts Böses ahnend zwei Belgiern überlassen haben. So erzählt er jedenfalls einem französischen Fernsehsender, bevor er verhaftet wird.

Stundenlange Schusswechsel und Explosionen

Am frühen Morgen dauerte ein heftiger Schusswechsel um das belagerte Haus über eine Stunde an. Die Terrorverdächtigen, die sich dort verschanzt hatten, hatten offenbar noch ausreichend Munition. Im Verlauf des Morgens sind mehrfach Explosionsgeräusche zu hören, Blendgranaten oder echte Waffen - das ist nicht zu unterscheiden. Der Einsatz zieht sich Stunde um Stunde in die Länge. Die Polizei bringt zwei Männer weg - einen, der sich halbnackt in ihren Griffen windet, einen zweiten in eine Isolationsdecke gehüllt. Das Geheul von Polizeisirenen ist zu hören, das Rattern eines Helikopters.

Später wird bekannt, dass eine Frau sich bei ihrer Verhaftung mit einen Bombengürtel selbst in die Luft gesprengt hatte. Sie soll eine Vertraute, später heißt es eine Cousine, des mutmaßlichen Topterroristen Abdelhamid Abaaoud sein. Die Polizei hat sie angeblich schon länger beobachtet und ihre Telefone abgehört - so stieß sie auf das Haus in Saint-Denis als mögliches Versteck der Terroristen.

Frankreich: Schießerei bei Polizeiaktion in Saint-Denis nahe Paris (Foto: Reuters)
Bis kurz vor Mittag dauerte der EinsatzBild: Reuters/B. Tessier

Die Polizei hatte vor dem Einsatz zwischen 15.000 und 20.000 Anwohner evakuiert. Denn niemand weiß, ob die Terrorgruppe Sprengstoff einsetzt - die älteren Häuser in den eng bebauten Straßen würden leicht Feuer fangen. Einige Bewohner wandern zwischen den Kameras auf der Place Victor Hugo herum und warten darauf, dass sie wieder in ihre Wohnungen können. Warum dauert es alles so unglaublich lange? Warum stürmt die Polizei die Häuser nicht endlich? Gibt es Geiseln?

Unübersichtliche Bebauung

Anwohner Christophe erklärt schließlich, dass der gesamte große Häuserblock von Drogendealern für ihre Geschäfte genutzt werde: "Die Häuser da sind über Höfe, Keller und Dachböden alle miteinander verbunden, man kann hier vorn an der République reingehen und kommt da ganz hinten am Markt wieder raus. Es ist durchlöchert wie ein Schweizer Käse, es sind die reinsten Rattengänge." Wenn die Polizei sich tatsächlich durch dieses Gewirr von Gängen und Gebäuden vorantasten muss, wird verständlich, dass sich der Einsatz hinzieht.

Plötzlich wird ein Nachlassen der Spannung spürbar. In der Ferne schlendern entspannt ein paar Polizisten - der Einsatz ist gegen 11.40 Uhr vorbei. Offizielle mit Leibwächtern treten an die Barrikaden, unter ihnen Innenminister Bernard Cazeneuve. Er gibt in wenigen Worten ein Resümee: Zwei tote Terrorverdächtige, sieben Verhaftungen und fünf leichtverletzte Polizisten. Über die Identität der Toten und Verhafteten wolle er noch nichts sagen. Es bleibt also weiter offen, ob man den gefunden hat, der im Zentrum dieses Großeinsatzes stand: Den als Drahtzieher gesuchten Abdelhamid Abaaoud.

Einige Stunden später erklärt Cazeneuve vor der Nationalversammlung, die Einsatzkräfte seien noch nie solcher Gewaltbereitschaft begegnet oder so massiv unter Feuer gekommen.