"Belgien könnte eine Konföderation werden"
25. Januar 2011DW-WORLD.DE: Herr Rochtus, Zehntausende haben am Sonntag (23.01.2011) in der belgischen Hauptstadt Brüssel demonstriert - für eine schnelle Regierungsbildung. Das war eine spontane Demonstration gegen den politischen Stillstand im Land, gegen die politische Klasse und für mehr Verantwortung. Zeigt sich denn die politische Klasse davon überhaupt beeindruckt?
Dirk Rochtus: Die politische Klasse macht natürlich weiter. Sie kann sich zwar nicht gegen das wehren, was die Leute verlangen, aber zugleich lässt sie sich nicht jagen. Das wäre ja auch sehr unpopulär, wenn man jetzt als Politiker sagen würde: "Wir haben nicht gehört, was da los ist." Deshalb sagen sie: "Wir müssen weiter verhandeln. Viel wichtiger ist, dass wir eine gute Regierung zustande bringen als etwas, das zu schnell ineinandergedreht worden ist."
Aber es herrscht ja eine politische Blockade in Belgien, jetzt schon seit mehr als 200 Tagen. Der Wahlgewinner im nördlichen, flämischen Teil war die populistische Neue Flämische Allianz unter Bart De Wever. Und De Wever befürwortet ja eine Spaltung Belgiens, eine Teilung zwischen Flandern und dem südlichen Wallonien. Er will sogar den Finanztransfer in den französischsprachigen Teil unterbinden. Wird das Ihrer Meinung nach funktionieren?
Ich glaube, dass man das nicht so radikal, pointiert sagen darf. Es stimmt natürlich, dass im Programm dieser NVA, der Neuen Flämischen Allianz, steht: "Wir wollen eine flämische Republik!". Aber diese Politiker wissen natürlich auch, dass sie das nicht allein umsetzen können. Und solange das nicht möglich ist, werden sie sich arrangieren und wie richtige Legalisten verfahren müssen. Das heißt, sie akzeptieren das System, wie es im Moment ist, aber sie wollen den Staat reformieren, damit er transparenter und effizienter wird.
Was die Transfers betrifft: Es ist nicht so, dass Flandern diese völlig unterbinden wird, denn das würde zu einer Verarmung von Wallonien führen und das wäre auch nicht zuträglich für Flandern. Die beiden Regionen sind ja Handelspartner und haben eine gemeinsame Ökonomie. Auch Flandern würde darunter leiden, wenn die Wallonie verarmen würde. Also geht es nicht darum, die Transfers zu unterbinden, sondern mehr Transparenz zu schaffen: Wie viel Geld fließt in den Süden und was wird damit gemacht? Wer übernimmt dort die Verantwortung? Es ist an erster Stelle eine Frage der Verantwortung. Es stimmt natürlich, dass die flämische politische Klasse, mehr Kompetenzen will, aber zugleich will sie auch mehr Verantwortung im Finanzbereich, das heißt mehr fiskalische Autonomie.
Wäre denn überhaupt eine Teilung Belgiens möglich, abgesehen von den wirtschaftlichen Komplikationen, die da vielleicht auf die Belgier zukommen könnten?
Jeder müsste damit einverstanden sein. Man kann das nicht so einseitig ausrufen. Es sei denn, die Flamen würden sich einstimmig dafür aussprechen. Aber das ist nicht der Fall, denn nicht alle Flamen wollen diese Unabhängigkeit. Das Einzige, was im Moment möglich ist, ist eine weitergehende Autonomie, die vielleicht langfristig zu einer Art Konföderation führen würde. Ich glaube, das ist die realistischste Option, dass man in Richtung einer Konföderation geht.
Wie würde denn eine solche Autonomie aussehen. Können Sie uns da ein Beispiel geben?
Das heißt, dass man sich darüber verständigt, was man noch gemeinsam machen will. Es gibt in der Verfassung den Artikel 35. Darin legen die Belgier fest, welche Politikbereiche sie noch gemeinsam betreiben wollen. Beispielsweise Justiz-, Verteidigungs- oder Außenpolitik, und alles andere könnte an die Regionen übertragen werden. Das ist also ein Artikel der Verfassung, der zu einer Konföderation führen könnte, wobei nur einige Sachen beim Föderalstaat bleiben würden.
Wer könnte das entscheiden, ob es zu einer solchen Konföderation kommt? Muss dafür ein Volksentscheid her oder soll das in Wahlen entschieden werden?
Ein Volksentscheid kommt nicht in Frage, weil wir diese Tradition in Belgien nicht wirklich haben. In erster Linie ist das Sache der Politiker. Aber natürlich müssen sie sich damit einverstanden erklären, dass sie das auf diese Weise machen wollen. Schon in den letzten sieben Monaten haben wir gesehen: Auch andere Möglichkeiten, die vergleichsweise weniger schwerwiegend sind, aber dennoch zu diesem langfristigen Ziel von mehr Autonomie führen, sind nur unter enormen Anstrengungen zu erreichen. Auf Dauer wird man sagen müssen: Wenn wir nicht in die Sackgasse gelangen wollen, müssen wir tatsächlich die volle Veränderung durchsetzen.
Sehen Sie eine weitestgehende Autonomie der beiden Landesteile als einzige Lösung in diesem Konflikt?
Jetzt ist leider alles so festgefahren, so blockiert. Von flämischer Seite will man Änderungen, mehr Reformen. Von frankophoner Seite - und ich sage absichtlich von frankophoner Seite, weil wir zwischen der Wallonie und dem überwiegend frankophonen Brüssel unterscheiden müssen - ist man ein bisschen zögerlich in Bezug auf Reformen. Man befürchtet dort, dass Reformen auf die Dauer zu einer Trennung führen würden.
Aber wer kann denn jetzt bald etwas entscheiden? Da muss doch mal einer auf den Tisch hauen?
Das ist die Frage die man sich schon seit sieben Monaten stellt und bisher hat man nur auf flämischer Seite bestimmte Forderungen gestellt und auf den Tisch gehauen. Beispielsweise hat Bart De Wever von der Neuen Flämischen Allianz im Oktober 2010 ein Papier auf den Tisch gelegt, das sehr weit ging in Richtung Autonomie. Aber gleichzeitig enthielt dieses Papier auch bestimmte Zugeständnisse für die Wallonie, die von flämisch-nationalistischer Seite schwer zu verkraften gewesen wären. Die frankophone Seite hat dieses Papier gleich abgelehnt. Jetzt ist man tatsächlich in der Sackgasse gelandet und weiß überhaupt nicht, wie es weitergeht.
Niemand kann diese Sackgasse auflösen. Müssen da noch mehr Studenten auf die Straße gehen oder bringt das nichts?
Die Politiker sagen, wir machen so weiter und wenn nichts dabei herauskommt, ja dann - das hat noch niemand offiziell gesagt, aber dann kann es vielleicht zu Neuwahlen kommen.
Dr. Dirk Rochtus ist Dozent für internationale Politik an der Lessius Hochschule (Assoziation mit der katholischen Universität Leuven) in Antwerpen.
Interview: Marlis Schaum
Redaktion: Nicole Scherschun