Bentaleb: "Auf Schalke kann ich alles zeigen"
30. März 2017Es passiert nicht oft, dass ein Fußball-Profi beim Interview Gegenfragen stellt, schon gar nicht, wenn es darum geht, welchen Titel er gewinnen möchte. Doch Schalkes Nabil Bentaleb tut genau das, als er gefragt wird, ob er lieber das Revierderby gegen Borussia Dortmund gewinnen oder den Titel in der Europa League erringen würde. Eine spontane Reaktion eines 22-Jährigen, der nicht auf jede Frage, schablonenhafte Sätze antwortet, die er im Medien-Training gelernt hat. Präsentiert mit dem breiten Grinsen, das Bentaleb meistens auf den Lippen trägt. Als er die Frage schließlich doch beantwortet, ist das fast genauso überraschend wie seine erste Reaktion:
"Ich will die Europa League gewinnen, dann spielen wir nächste Saison in der Champions League - was könnte es besseres geben?" Bentalebs Englisch schwankt zwischen Nord-Londoner Dialekt und französischem Akzent. "Natürlich habe ich überhaupt keine Lust, das Derby zu verlieren - keine Sekunde lang! Aber, wenn ich so eine Frage gestellt bekomme, dann wähle ich den Sieg in der Europa League. Dann hätten wir einen Titel geholt und wären in der Champions League dabei. Was für eine Belohnung und welch Geschenk für unsere Fans."
Tottenham als wichtige Entwicklungsstufe
Schalkes Fans mussten einen frustrierenden Saisonstart miterleben, obwohl die Hoffnungen vor dem Start groß waren. Fünf Bundesliga-Pleiten in Folge - alles lief anders, als man es sich gewünscht hatte. Doch dann folgte eine Wende, und es ging bergauf - für den Klub und für Bentaleb. Abgesehen vom 0:0 im Hinspiel in Dortmund, traf Bentaleb in jedem der folgenden fünf Spiele oder gab zumindest eine Vorlage. Der Algerier hatte sich mal wieder neu erfunden.
"In Tottenham habe ich eine Chance bekommen, die mir in Frankreich niemand geben wollte, deswegen bin ich dem Klub sehr dankbar. Aber bei den Spurs musste ich eine defensivere Position spielen, obwohl ich wusste, dass ich offensiv etwas drauf habe. Bei Schalke kann ich das jetzt - ich kann mehr gestalten und entscheidender zum Erfolg der Mannschaft beitragen. Das ging in Tottenham leider nicht", erklärt Bentaleb, dankbar, dass sein neuer Klub auf seine verborgenen Talente vertraute. "Als ich den Auftrag bekam, mehr den Weg nach vorne zu suchen, habe ich erkannt, dass ich beides beherrsche. Eigentlich wusste ich es vorher schon, aber vor Schalke habe ich nie die Gelegenheit bekommen, es auch zu zeigen."
Wunschrolle und Vertrauen auf Schalke
Als Sechser in Tottenham sei es vor allem um Sicherheit und Verlässlichkeit im zentralen Mittelfeld gegangen. Zwar habe er dort auch das Spiel gestaltet, sich aber fast nie im vorderen Drittel des Spielfelds aufgehalten. "Ich habe die Bälle verteilt und Pässe durch die Schnittstellen nach vorne gespielt, aber es waren eben keine direkten Torvorlagen. Auf Schalke spiele ich fast immer im Angriffsdrittel und versuche, den letzten oder zumindest vorletzten Pass vor einem Abschluss zu geben oder selbst Tore zu schießen. Das ist der Unterschied."
Kein Zweifel, Bentaleb weiß zu schätzen, wie wertvoll Tottenham Hotspur für seine Entwicklung war. Aber es wird genauso deutlich, wie sehr er sich über seine neue Rolle beim FC Schalke freut.
"Zum ersten Mal stand ich gegen Eintracht Frankfurt auf dem Platz und, weil wir dabei waren, das Spiel zu verlieren, sagte der Trainer zu mir: Geh raus und mach ein Tor!", erinnert sich Bentaleb. "Seitdem ist meine Haltung auf dem Platz eine ganz andere, als es noch in England der Fall war - weil die Erwartung an mich eine andere ist." In England habe man ihn als Defensivspieler angesehen, von dem man keine Tore oder Vorlagen erwartete. "Hier in Deutschland kannten die meisten mich wahrscheinlich gar nicht. Als ich neu dazu kam, musste ich einen neuen ersten Eindruck von mir liefern. Und der ist halt so, dass ich auch offensiv Dinge bewegen kann. Ich bin nicht mehr Nabil, der Bälleklauer, sondern Nabil, der Kreative - ganz anders als in England und schon ein bisschen verrückt."
Zwischen den Zeilen scheint es, als spreche Bentaleb über zwei völlig unterschiedliche Entwicklungen innerhalb seiner Karriere. Vielseitigkeit ist gut, heißt es, und seine enorme Spielintelligenz kommt dem zugute.
"Wir sind im Jahr 2017. Um ein guter Mittelfeldspieler zu sein, muss man heute beides können. Schon seit Beginn meiner Laufbahn wird über mich gesagt, ich sei ein Spieler, der überall zwischen den beiden Strafräumen spielen kann. In Tottenham musste ich diese Rolle defensiver ausfüllen. Hier bewege ich mich eher im Angriffsdrittel. Es hängt einfach davon ab, was der Trainer will und welche Taktik wir spielen”, sagt Bentaleb beiläufig. Beobachtet man ihn anschließend im Training, leuchtet ein, warum ihm das so leicht fällt: Er ist schnell, seine Wendigkeit wird unterschätzt, und sein Torabschluss ist auf Schalke ganz offensichtlich entfesselt worden.
Fast könnte man sagen, Bentaleb ist Tottenham entwischt. Für die Klubs in der Premier League ist es eine weitere Bestätigung dafür, dass man nicht alle faszinierenden Spieler und Talente verpflichten und auch halten kann. Bentaleb ist wichtig, dass ihm Vertrauen entgegengebracht wird und er mehr Einsätze bekommt. "Ehrlich gesagt habe ich nicht groß darüber nachgedacht, ob es gut oder schlecht ist, England zu verlassen", erzählt Bentaleb. „Ich wollte spielen. Solange ich Teil einer guten Mannschaft sein kann und einige an mich glauben, war ich mir sicher, dass ich eine gute Rolle spiele. Mit diesen Gedanken bin ich nach Gelsenkirchen gekommen."
Beeindruckt von den Fans
Mit besonderer Spannung blickte Bentaleb auf das Derby gegen Dortmund. Zumal er die aufgeheizte Derby-Atmosphäre schon aus London kennt, aus den Duellen zwischen Tottenham und Arsenal: "Das ist absolut vergleichbar. Die Rivalität ist einfach riesig."
Bentaleb war beeindruckt von den tausenden Fans, die schon vor dem letzten Derby zum Schalker Trainingsgelände gekommen waren. Und er war neugierig, wie gut die Unterstützung von den Rängen sein würde. Etwas, dass er bisher nur aus der Ferne erlebt hatte.
”Die Bundesliga hat mich in dieser Saison schon überrascht", erklärt er. "Ich sehe viele junge Spieler und Teams, die immer versuchen, richtig gut Fußball zu spielen. Das macht es jede Woche schwierig. Außerdem hat mich positiv überrascht, wie viele Talente aus der Nachwuchsarbeit kommen." Gemeinsam mit den Ligen in Spanien und England gehöre die Bundesliga zu den attraktivsten Europas, so Bentaleb.
Mit einem freundlichen, fast kumpelhaften Handschlag verabschiedet sich Bentaleb und verschwindet in den Gängen des Schalke-Museums, dessen Wände mit Bildern der Helden vergangener Tage gepflastert sind. Es wird spannend zu sehen, was aus dem 22-Jährigen in den nächsten Jahren wird, nachdem ihm Schalke die Möglichkeit eröffnet hat, endlich der Spieler zu sein, der er selbst immer sein wollte. Vielleicht gelingt es dann auch Schalke, viel mehr von dem Potential abzurufen, das in dem Verein steckt.