Chilcot-Bericht: Vernichtungsschlag für Blair
6. Juli 2016"Ich muss feststellen: Mein Sohn ist umsonst gestorben", sagt Rose Gentle nach der Vorstellung des Untersuchungsberichtes in London unter Tränen. Ihr Sohn Gordon war 2004 in Basra gefallen und wie andere Familienmitglieder der 179 britischen Soldaten, die im Irak starben, hatte sie ungeduldig auf eine Verurteilung von Ex-Premier Tony Blair gewartet. Ihre Hoffnungen wurden nicht ganz erfüllt, dennoch sagte ein Sprecher der Familien, dass der Bericht die Dinge deutlich beim Namen nenne: "Wir werden prüfen, ob wir die Verantwortlichen vor Gericht bringen können", erklärte Roger Bacon, der ebenfalls einen Sohn im Irak verloren hat.
Einmarsch im Irak - zu früh und ohne guten Grund
"Wir denken an das fortgesetzte Leiden der Menschen im Irak", so eröffnete Sir John Chilcot die knappe halbe Stunde, in der er die Kernthesen seines zwölf Bände und 2,5 Millionen Wörter umfassenden Berichtes vorstellte. Damit schlug er unmissverständlich den Bogen zum heutigen Zustand des Landes, das von Terroranschlägen und anhaltender Unsicherheit geschüttelt wird. "War es richtig und notwendig 2003 in den Irak einzumarschieren und das Land zu besetzen?", diese Frage wolle der Bericht beantworten. Und die Antwort von Chilcot ist ein dröhnendes Nein.
Der Bericht ließ sieben lange Jahre auf sich warten, dafür ist er umso vernichtender: Als Großbritannien 2003 an der Seite der USA in den Irak einmarschierte, waren noch nicht alle friedlichen Mittel gegen Saddam Hussein ausgeschöpft. Er stellte zu diesem Zeitpunkt keine unmittelbare Bedrohung für den Westen dar. Die Geheimdienstberichte über Saddams mutmaßliche Massenvernichtungswaffen hätten nicht als "gesichert" dargestellt, sondern hinterfragt werden müssen. Die Rechtsgrundlage für den Krieg war zweifelhaft. Die britische Regierung unterminierte die Autorität des UN-Sicherheitsrates und rüstete ihre Soldaten für den Krieg nicht gut genug aus. Und schließlich gab es keinen Plan für die Zeit danach. Der Bericht des früheren hohen Regierungsbeamten Sir John Chilcot kritisiert Ex-Premier Tony Blair und seine Regierung auf das Schärfste und umfassend.
Die Untersuchung sieht die Quelle des politischen Unheils in dem berühmt-berüchtigten Treffen zwischen Tony Blair und George W. Bush auf seiner Ranch in Crawford, Texas, im Frühjahr 2002 und zitiert einen nachfolgenden Brief aus dem Sommer des Jahres. "Ich werde auf jeden Fall an deiner Seite sein", hatte der britische Premier damals an den US-Präsidenten geschrieben. Dieses und andere Dokumente gehörten zu den zahlreichen Geheimunterlagen, um deren Veröffentlichung jahrelang gestritten wurde und die den Untersuchungsbericht verzögerten.
Kriegsgründe und Planung unzureichend
Einige besonders scharfe Anmerkungen macht der Untersuchungsbericht über die Rechtsgrundlage des Krieges, die der damalige Generalanwalt Peter Goldsmith der Regierung Blair vorgelegt hatte. War er im Sommer 2002 noch der Auffassung, dass eine Invasion des Irak ohne eine zweite Resolution des UN-Sicherheitsrates nicht möglich sei, erklärte er im Frühjahr 2003 genau das Gegenteil und befand den Militäreinsatz plötzlich für rechtmäßig. "Was war in diesem Zeitraum geschehen?", fragte Sir John Chilcot. Es wurde immer vermutet, Tony Blair habe damals den Juristen unter Druck gesetzt.
Darüber hinaus analysiert der Bericht alle politischen Umstände, die zum Krieg führten, die Militäraktion selbst und die amerikanisch-britische Besatzung nach dem Krieg in jeder Einzelheit. Diese trockene Detailgenauigkeit macht seine Erkenntnisse umso schlagkräftiger: Der Krieg hätte in dieser Form zu diesem Zeitpunkt nicht geführt werden dürfen, "diese Intervention ging furchtbar schief", so das Urteil von Sir John Chilcot. Und eine der Lektionen für künftige britische Regierungen laute: "Das Verhältnis zu den USA erfordert keine bedingungslose Unterstützung" der Regierung in Washington. Und schließlich noch ein verbaler Handkantenschlag gegen den früheren Premier: "Blair hat seine Fähigkeit überschätzt, die US-Politik zu beeinflussen".
Blair übernimmt Verantwortung nur eingeschränkt
Ein bleicher, sichtlich geschockter Tony Blair reagierte nach der Vorstellung des Berichtes mit zitternder Stimme: "Ich übernehme die Verantwortung für die Entscheidungen, die getroffen wurden". Und: "Die Geheimdienstberichte waren falsch. Ich möchte meine Trauer, Bedauern und Entschuldigungen ausdrücken, mehr als man sich vorstellen kann". Gleichzeitig aber blieb er bei seiner alten Linie: Er habe niemanden belogen, geglaubt das Richtige zu tun und halte es noch heute für richtig, Saddam Hussein entfernt zu haben. Die Welt habe sich nach den Terroranschlägen vom 11. September grundlegend verändert und er stehe zu seiner damaligen Entscheidung, auch wenn es die schwerste seines Lebens gewesen sei. Seine Reaktion ist letztlich einmal mehr eine Rechtfertigung.
Labour-Parteiführer Jeremy Corbyn hatte auf diesen Tag gewartet - manche sagen sogar, er habe deswegen seine drohende Amtsenthebung hinausgezögert: "Die Entscheidung in den Irak einzumarschieren… war ein Akt militärischer Aggression unter Vorspiegelung falscher Tatsachen. Und nach der überwiegenden Auffassung internationaler Juristen gab es dafür keine Rechtsbasis". Der Krieg im Irak sei eine Katstrophe gewesen, fasst Corbyn zusammen, und verdammt damit den von ihm gehassten Ex-Premier noch einmal aus ganzer Seele.