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Kein pauschales "Recht auf Vergessenwerden"

27. Juli 2020

Öffentliches Informationsinteresse schlägt den Schutz persönlicher Daten. Der Bundesgerichtshof stärkt Google - und die Meinungsfreiheit. Das "Recht auf Vergessenwerden" im Internet ist vom Einzelfall abhängig.

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Symbolbild Google Logo zu Steuerstreit mit Frankreich
Bild: Reuters/A. Song

Die Abwägung fiel schwer - und zog sich über drei Instanzen. Jetzt hat der Bundesgerichtshof (BGH) entschieden: Das Informationsrecht der Öffentlichkeit überwiegt das Recht der Betroffenen auf Schutz ihrer persönlichen Daten. Damit wies der BGH die Klage des ehemaligen Geschäftsführers einer hessischen Wohlfahrtsorganisation gegen den Internetkonzern Google ab. Der Suchmaschinenriese darf weiterhin ältere Presseberichte über eine Erkrankung des Mannes und ein Finanzdefizit des Verbandes in seiner Trefferliste anzeigen.  

Gegenüber Suchmaschinen-Betreibern gibt es damit laut BGH kein automatisches "Recht auf Vergessenwerden" im Internet. Ob Links zu kritischen Artikeln aus der Trefferliste entfernt werden müssen, ist immer von einer umfassenden Grundrechtsabwägung im Einzelfall abhängig.

Einen zweiten Fall zum Recht auf Vergessenwerden legte der BGH dem Europäischen Gerichtshof vor. Dort ist der Wahrheitsgehalt der auf der Trefferliste gezeigten Berichte umstritten.

Der Richterspruch war mit großem Interesse erwartet worden. Weil es in Deutschland das erste höchstrichterliche Urteil ist, seit 2018 in der ganzen EU die Datenschutzgrundverordnung gilt. Die gibt den Bürgern gegenüber Daten-Konzernen weitreichenden Rechte. Entscheidend ist dabei Artikel 17, erklärt Christian Solmecke. Dem Kölner Experten für Internetrecht zufolge besagt der, "dass jede Person von einem für die Datenverarbeitung Verantwortlichen verlangen kann, dass personenbezogene Daten, die sie betreffen, unverzüglich gelöscht werden."

Kölner Rechtsanwalt Christian Solmecke
Experte für Internetrecht: Christian SolmeckeBild: privat

Wegscheide im Jahr 2014

Geebnet hatte den Weg zu diesem prinzipiellen Recht auf Vergessenwerden ein Urteil des Europäischen Gerichtshofs (EuGH) im Jahr 2014. Ausgangspunkt war ein Fall, wie er typisch ist für viele andere: Ein Spanier hatte gegen Google geklagt, weil beim Eintippen seines Namens in die Suchmaschine prominent auf einen Artikel der Zeitung La Vanguardia verlinkt wurde. Darin wurde über eine Zwangsversteigerung berichtet; der Mann wurde als Besitzer der Immobilie namentlich genannt.

Inzwischen aber war ein gutes Jahrzehnt vergangen; der Mann war längst schuldenfrei. Durch die Google-Suchergebnisse befürchtete er wirtschaftliche Nachteile und klagte. Die Luxemburger Richter gaben dem Mann Recht. Seither können Bürger von Suchmaschinen verlangen, sensible persönliche Informationen zu streichen.

Europäischer Gerichtshof in Luxemburg
Hier wurde 2014 Rechtsgeschichte geschrieben: Der EuGH stärkte das "Recht auf Vergessenwerden"Bild: picture-alliance/dpa/A. I. Bänsch

Knappe Million Löschanträge

Dieses Recht nehmen EU-Bürger rege in Anspruch, wie der Google Transparency Report ausweist. Seit 2014 haben demnach fast eine Million Menschen von Google die Löschung von nahezu vier Millionen Links aus den Ergebnislisten gefordert. In knapp der Hälfte der Fälle kam der Suchmaschinenbetreiber den Forderungen nach. Am häufigsten wurden Links zu Facebook entfernt. Etwa jede sechste URL wurde nach Beschwerden aus Deutschland gelöscht.

Erfolg mit seinem Löschantrag hatte zum Beispiel ein Lehrer. Der Link zu einem Artikel, in dem über seine Verurteilung vor über einem Jahrzehnt wegen eines geringfügigen Vergehens berichtet wurde, taucht jetzt in den Suchergebnissen zu seinem Namen nicht mehr auf. Durchsetzen konnte sich auch ein Vergewaltigungsopfer. Der Link zu einem Zeitungsartikel über die Tat wurde entfernt.

Umgekehrt scheiterte ein Geistlicher mit seiner Forderung, zwei Nachrichtenartikel aus der Google Suche zu löschen, in denen es um Anschuldigungen wegen sexuellen Missbrauchs gegen ihn ging. Die Begründung: Google stuft die Information als relevant für das öffentliche Leben des Geistlichen ein. Und: Die Kirche hatte die Untersuchung des Falls noch nicht abgeschlossen.  

Tugend des Vergessens

"Vergessen ist eine Eigenschaft, kein Fehler", wird Viktor Mayer-Schönberger grundsätzlich gegenüber der DW. Der Internetwissenschaftler vom Oxford Internet Institute gehört zu den Pionieren des "Rechts auf Vergessenwerden". In seinem Buch "Delete. Die Tugend des Vergessens im digitalen Zeitalter" hatte Mayer-Schönberger schon 2010 dargelegt, welche Gefahren mit der grenzenlosen Speicherung von Daten und ihrer Auffindbarkeit durch Suchmaschinen verbunden sind. Weil sich mit einem Mausklick Ereignisse in die Gegenwart holen lassen, die eine analoge Gesellschaft längst vergessen oder nie gefunden hätte. Das Internet aber dokumentiert unterschiedslos alles - ohne Kontext zu liefern. 

Viktor Mayer-Schönberger
Fordert ein "digitales Verfallsdatum": Viktor Mayer SchönbergerBild: picture-alliance/Frank May

Dabei kann Vergessen so wichtig sein - zum Beispiel für einen fruchtbaren Neubeginn. Das wussten schon vor mehr als dreieinhalb Jahrhunderten die Diplomaten, die in Münster am Ende des Dreißigjährigen Krieges den Westfälischen Frieden aushandelten. Der schreibt nicht weniger fest, als ein "immerwährendes Vergessen und Vergeben all dessen, was seit Anbeginn dieser Auseinandersetzung von der einen oder anderen Seite feindlich geschehen ist."

Krankheit des Erinnerns

In der Medizin gibt es eine Analogie für die Unfähigkeit des Internets, Erinnerungen sinnvoller zu verwalten: Als “hyperthymestisches Syndrom“ wird das Leiden von Menschen beschrieben, die nichts vergessen können, nicht einmal die kleinsten Kleinigkeiten. Sie werden permanent von ihren Erinnerungen überwältigt. Ständig müssen sie längst Vergangenes neu durchleben. Steuern können sie ihre Erinnerungen nicht.

Diese Krankheit tritt bei Menschen extrem selten auf. Aber durch Internet und Suchmaschinen kranken inzwischen ganze Gesellschaften daran: Relevantes kann nicht mehr unterschieden werden von Unwichtigem, Veraltetem, Überholtem.

Notlösung Recht

So sehr sich Internetexperte Mayer-Schönberger auch über die Aufmerksamkeit freut, die der Prozess vor dem Bundesgerichtshof der Bedeutung des Vergessens in digitalen Zeiten verschafft: Rechtliche Lösungen sind für ihn nur eine Notlösung. Weil "nur jene, die es sich leisten können, dieses Recht auch einfordern und durchsetzen".

Screenshot Google Antrag auf Entfernung
Löschantrag bei Google: Der Anfang eines möglicherweise sehr langen Weges

Rechtsanwalt Solmecke bestätigt: Wer von Google einen Link aus der Suchergebnisliste löschen lassen will, muss viel Geduld mitbringen. "Nicht selten kommt es vor, dass Google bei einem Löschungsantrag erst einmal nicht reagiert oder sich komplett quer stellt", so der Fachmann für Internetrecht.

Praxis des Vergessens

Viktor Mayer-Schönberger plädiert deshalb für eine “Praxis des Vergessens“, vorangebracht durch technische Prozesse und Werkzeuge, ein digitales Verfallsdatum.

Symbolbild - Snapchat
Bei Snapchat ist das Vergessen schon eingebaut Bild: picture-alliance/MAXPPP/L. Tanguy

Was er damit meint, erläutert Mayer-Schönberger am Beispiel der Messaging-App Snapchat. Die löscht geteilte Inhalte automatisch nach kurzer Zeit. Und ist damit ein Beispiel für eine Form der Kommunikation, die vergänglich ist und auch wieder vergisst.

In diese Richtung gehe in Zeiten von Big Data und Maschinenlernen auch die moderne Forschung, hat der gebürtige Österreicher beobachtet: “Die besten Algorithmen des maschinellen Lernens sind jene, die alte Daten weniger stark berücksichtigen - oder ganz vergessen“. Vielleicht erledigen sich damit über kurz oder lang Prozesse wie der vor dem BGH ganz von selbst.

Matthias von Hein
Matthias von Hein Autor mit Fokus auf Hintergrundrecherchen zu Krisen, Konflikten und Geostrategie.@matvhein