Auf Sandalen durch das Kaiserreich
2. April 2013
Was wird der Schutzmann wohl heute Abend erzählen, wenn er von der Arbeit nach Hause kommt? Dass er einem Verrückten in Sandalen begegnet ist? Einem Langhaarigen in einem Nachthemd? Oder einem religiösen Fanatiker, der sich als Jesus verkleidet hat? Was immer der Polizist sich so denkt, der seltsame Spaziergänger auf den Straßen Berlins (von dem wir den Namen nicht kennen) ist in diesem Jahr 1907 mehr als ein Einzelgänger. Er gehört zu jenen, die oft als "Naturmenschen" bezeichnet werden und zu jener breiten Bewegung der Lebensreform zählen, die seit der Jahrhundertwende immer stärkeren Zulauf erfährt. Ihr Ziel ist ein anderes, ein radikal anderes Leben – Gesellschaftsveränderung durch Lebensreform.
Das Spektrum der unterschiedlichen Richtungen ist groß: Da gibt es die Befürworter einer Bodenreform, die Anhänger der Antialkoholbewegung, die Vegetarier, die ihr Verhalten wahlweise gesundheitlich, ökonomisch oder ethisch begründen, die Nudisten, die Vertreter der Naturheilkunde, hier reicht das Spektrum von der Homöopathie bis zur klassischen Kurpfuscherei, und den Befürwortern einer Kleidungsreform, die "gesunde" Textilien für gesunde Menschen fordert.
Oft genug ist den Lebensreformern dabei eine quasi-religiöses Sendungsbewusstsein zu eigen: Sie sind wissender als der Rest der Welt, oft genug schmücken sie sich mit einer Mischung aus Stolz und Überheblichkeit. Die Impulse der Lebensreformer gehen an der Mehrheitsgesellschaft nicht spurlos vorbei. Und so können sie im 20. Jahrhundert – vom "Dritten Reich" und der DDR einmal abgesehen – allmählich tatsächlich bewusstseinsverändernd wirken: Die Reformhäuser der 1970er Jahre, die Umweltschutzbewegung oder der heute so ausgeprägte Markt rund um die Gesundheit – all diese Phänomene haben in den historischen Debatten über eine gesunde und natürliche Lebens- und Ernährungsweise um 1900 eine ihrer wichtigsten Wurzeln. Sie sind ein deutsches Erbe – und so ist der wundersame Mann in den Sandalen ebenso unser Ahnherr wie der preußische Schutzmann.