Corona-Krise in Bolivien: "Bitte beten Sie"
28. Juni 2020"Eben schrieb Schwester Rosa Maria: Am Vormittag sind sechs Personen gestorben im Barrio Julio Leigue (Armenviertel am Rande der bolivianischen Stadt Santa Cruz, Red.). Viele sind schwerkrank. Kein Arzt, keine Krankenschwester ist aufzutreiben. Sie versucht es. Das ist so schlimm!"
Die Nachricht über Kranke und Tote mit COVID-19-Symptomen - nicht getestet, nicht behandelt - gibt Schwester Christa (90) aus dem Mutterhaus der Arenberger Dominikanerinnen in Koblenz weiter. Sie hat fast 30 Jahre in Bolivien gelebt, kennt viele Menschen dort, kommuniziert und leidet mit ihnen - eine lebendige Brücke von Deutschland nach Bolivien. In Santa Cruz hungern Tausende, seit sie durch Corona-Beschränkungen ihre prekären Jobs verloren haben.
Dann schickt Schwester Rosa Maria (51), die bolivianische Regionalpriorin, eine neue Schreckensmeldung aus Santa Cruz: "Fast die ganze Stadt ist überschwemmt. In den Barrios ist vielen das Dach über dem Kopf zusammengefallen. Ich weiß noch nicht wie, aber ich möchte wenigstens etwas Essen, Medikamente und Decken hinbringen. Bitte beten Sie."
Mehr Tote im Barrio als in Deutschland
In der Corona-Krise hält Schwester Christa per Telefon, Messenger und Mail intensiven Kontakt nach Bolivien. Für den Tag, an dem Schwester Rosa Maria bis mittags von sechs Toten in dem Barrio weiß, in dem die Schwestern eine Schule für 2000 Kinder haben, meldet das Robert-Koch-Institut für ganz Deutschland vier Tote mit COVID-19. Schwester Christa hat Erfahrungen aus der eigenen Familie: Ihre Cousine starb beim Corona-Ausbruch im Kreis Heinsberg im Altenheim.
In Deutschland leben mehr als 90 Arenberger Dominikanerinnen, hier wird der katholische Orden 1868 gegründet: Sie versorgen Kranke, Kinder und alte Menschen. 1963 schicken sie fünf Schwestern auf die lange See- und Landreise nach Bolivien, weil dort Helferinnen gesucht werden.
Heute betreiben 20 bolivianische Schwestern - vor allem mit finanzieller Hilfe aus Deutschland - in Santa Cruz, Cochabamba, Comarapa und Saipina Schulen und Kindergärten (in der Pandemie geschlossen), ein Hospital, eine Krankenstation mit Zahnarztpraxis und eine Altenherberge.
Corona-Krise in Deutschland: Seelische und wirtschaftliche Nöte
Mehr als 10.000 Kilometer entfernt bietet Kloster Arenberg in Koblenz Platz für 95 Gäste, die hier Angebote für Leib und Seele finden: Massagen oder Tautreten ebenso wie spirituelle Impulse, Meditationen und Seelsorge-Gespräche, die stark nachgefragt werden - 1200 allein im vergangenen Jahr. Am 18. März müssen Corona-bedingt alle Gäste abreisen. Das gemeinnützige Gästehaus verliert alle Einnahmen. Deutschland setzt auf Kontaktbeschränkungen und Abstand. Am Abend mahnt Bundeskanzlerin Angela Merkel die Deutschen: "Es ist ernst, nehmen Sie es auch ernst."
Die Schließung von Kloster Arenberg habe viele Gäste hart getroffen, sagt Schwester Ursula (44) aus dem Seelsorgeteam. Sie hätten das Gästehaus als sichere Insel wahrgenommen - auch in der Corona-Krise. Umso wichtiger wird die digitale Kommunikation per Homepage, Facebook, Instagram, Youtube.
Im Blog der Arenberger Dominikanerinnen postet Schwester Ursula ein Video mit Eindrücken aus dem leeren Gästehaus und Park. Nutzerin Kerstin B. kommentiert: "Immer wieder schaue ich mir dieses Video an und lasse mich in meinem Herzen berühren. Ich vermisse meinen Seelenort." Während der Schließung bietet Kloster Arenberg digitale Seelsorge an. Viele leiden jetzt - zusätzlich zu anderen Lebenskrisen - unter Einsamkeit oder Existenzsorgen.
Mit einem Altersschnitt von 81 Jahren und vielen Vorerkrankungen gehören die meisten Schwestern im Koblenzer Mutterhaus zur Risikogruppe. Sie bleiben nun auf dem Klostergelände, versammeln sich zum Essen und Gebet. In der Corona-Krise beten sie noch häufiger und intensiver als sonst: für Kranke, Sterbende, Pflegekräfte und Ärzte, für Menschen, die ihr Einkommen verlieren. Die Hälfte der Gästehaus-Angestellten geht in Kurzarbeit, sie bekommen einen Aufschlag.
Dann der Schreck: Eine Mitarbeiterin erkrankt an COVID-19. Kolleginnen und Schwestern, die mit ihr Kontakt hatten, müssen in Quarantäne. Eine der Schwestern ist dement, versteht das nicht. All das ist nicht einfach, aber niemals so bedrohlich wie in Bolivien. Seit dem 1. Juni ist Kloster Arenberg wieder geöffnet - mit deutlich weniger Gästen und vielen Abstands- und Hygieneregeln, vor allem beim Essen.
Gegen den Hunger - gemeinsame Töpfe in Bolivien
Abstand, Hygiene, Essen - an all dem fehlt es in den Barrios rund um die bolivianische Millionenstadt Santa Cruz. Familien leben in einem Zimmer, oft ohne sanitäre Anlagen. Im März leiden die Menschen noch stärker unter dem Dengue-Fieber als unter der Corona-Pandemie. Als diese sich in Bolivien ausbreitet, verlieren viele durch strenge Ausgangssperren alle Einkünfte. In Lateinamerika könnten durch die Pandemie bis zu 14 Millionen Menschen von Hunger bedroht sein, schätzen die Vereinten Nationen. Bolivien gilt als besonders betroffen.
Staatliche Hilfen werden angekündigt, bleiben aber monatelang aus oder müssen aufwändig beantragt werden, schreibt Schwester Rosa Maria. Sie organisiert mit vielen Helferinnen und Helfern in zehn Barrios "ollas comunes", gemeinsame Kochaktionen, bei denen das Essen in großen Töpfen zubereitet wird.
Die Ausgangssperre erschwert das Einkaufen: 150 Hühnchen, zentnerweise Reis, Öl, Eier, Nudeln, Gemüse, Zucker, damit auch die ärmsten Familien eine warme Mahlzeit bekommen. Bis zu 7000 Menschen werden versorgt. Anfangs gibt jeder, was er noch hat, schnell sind die Reserven verbraucht - große Solidarität in Bolivien und Spenden aus Deutschland helfen.
Erschütterung über den Tod eines Mädchens
Generalpriorin Schwester Scholastika (55), Chefin aller Arenberger Dominikanerinnen, schreibt Ende April im Blog: "Was meine Gemeinschaft zutiefst schmerzlich trifft und mich weinen lässt, ist eine Nachricht aus Bolivien: Schwester Rosa Maria berichtet, dass sich ein 12-jähriges Mädchen das Leben genommen hat, weil es seine jüngeren Geschwister hungern sah. Es wollte die Familie durch seinen Tod entlasten."
In Santa Cruz breitet sich das Coronavirus immer mehr aus, meldet Schwester Rosa Maria: "Die Lehrerin, deren Familie für 300 Familien kocht, ist positiv getestet, der Sohn liegt im Koma. Es wird dort nicht mehr gekocht, die gleiche Nachricht kam aus einem andern Barrio. Ich hörte von einer jungen Krankenschwester, die immer wieder nach den Leuten im Barrio sah. Sie infizierte sich und starb, ebenso eine alleinerziehende Mutter mit zwei kleinen Kindern."
Auf die Frage, was mit den Toten geschieht, heißt es: Sie müssten bei der Polizei gemeldet werden und würden abgeholt, ohne Sarg. Oft warteten die Familien Tage. Man wisse nicht, wohin sie gebracht würden - wohl in ein Massengrab.
Bolivien hat 11 Millionen Einwohner. Die Corona-Infektionen steigen nach offiziellen Zahlen derzeit täglich um mehr als 900 Fälle. Intensivversorgung, Medikamente, Tests und Schutzausrüstung sind Mangelware, sagen Wissenschaftler.
Viele Krankenhäuser kollabieren, beobachtet Schwester Rosa Maria: Niemand gehe ans Telefon, Schwerkranke warteten vor den Türen. Mehrfach sterben in Bolivien Menschen auf der Straße, auch vor Kliniken. Die interamerikanische Menschenrechtskommission (CIDH) fordert Aufklärung.
Wer wie Schwester Rosa Maria immer wieder zu Kranken und Hungernden geht, bringt sich selbst in Gefahr. Sie argumentiert: "Wie sollte ich mein Leben nicht riskieren! Die Menschen in den Barrios, die sich der Gefahr aussetzen und kochen, schonen sich auch nicht."
Geld, Gebete, Ohnmacht - und Vertrauen
"Bolivien ist mir nah wie nie. Die Situation ist so schmerzlich", sagt Generalpriorin Schwester Scholastika: "Wir können die Hilfsleistungen finanziell unterstützen, wir können beten. Dennoch fehlt die Begegnung, die konkrete Hilfe mit zwei Händen und einem Herz. Ich fühle mich ohnmächtig." Im Juli wollte sie nach Bolivien reisen, das ist jetzt unmöglich. "Corona drängt Menschen in die Armut, nun noch Überschwemmungen - wieder sind es die Armen, denen Letztes genommen wird."
Als nach schweren Regenfällen Hilferufe eingehen, fühlt sich auch Schwester Rosa Maria ohnmächtig, weil sie nicht zu den Menschen in den Überschwemmungsgebieten kann. Doch sie habe einen Weg gefunden, sagt Schwester Christa: Mit dem schweren Fahrzeug einer Baufirma bringt sie Medikamente, Essen, Decken und trockene Kleidung in abgelegene Barrios: Hütten sind zerborsten, ein Toter wurde fortgespült. Es ist kalt und nass. Alle sind erkältet, viele haben Lungenprobleme - ob es COVID-19 ist, wisse keiner.
Vor den Überschwemmungen hat eine Bolivianerin aus den Barrios Schwester Christa geschrieben: "Wenn es ansteht, von Null zu beginnen, dann beginnen wir eben wieder bei Null. Solange wir Leben haben, ist auch Hoffnung da. So lange wir etwas Reis haben, essen wir ihn mit einem Ei. Wenn nicht, muss man sich etwas einfallen lassen. Aber aus all dem kommen wir eines Tages heraus. Vertrauen wir!"