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"Feinde helfen Feinden"

Andrea Grunau4. Mai 2015

Gewalt, Unterdrückung, Hunger - all das erlebte sie im Krieg mit. Es half ihr später bei der Arbeit mit Menschen in Not. Wichtig ist ihr bis heute das Vorbild ihres Vaters, der das Kriegsende gar nicht mehr erlebte.

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Altes Familienbild von Familie Kitschen mit ihren drei Kindern im Garten (Foto: privat)
Gertrud Kitschen (ganz links) mit ihrer Familie vor dem Krieg, spätere Fotos gingen verlorenBild: Privat

"Kommt zu mir: Wenn wir sterben, dann alle zusammen", so bat die Mutter von Gertrud Kitschen im April 1945 ihre drei Kinder zu sich. Sie saßen im Keller eines Bauernhofs 60 Kilometer östlich von Dortmund. Gertrud war fast 15. Die Alliierten hatten die Region im "Ruhrkessel" eingeschlossen. Nach Tagen im Keller hörten sie von oben Stimmengewirr. Jemand ging nachsehen, kam zurück und rief alle herauf: "Dann standen da Amerikaner."

Die erste Zeit nach der Ankunft der US-Soldaten brachte neues Elend, erinnert sich die heute 85-Jährige. In dem kleinen Dorf bei Anröchte vergewaltigten einige der Soldaten Frauen und Mädchen. Voller Angst kletterten Gertrud und ihre Cousine in den Kornspeicher oben in der Scheune. Die Erwachsenen haben sie "mit Korn zugeschüttet". Ein Mann wollte seine Frau beschützen, er wurde erschossen. Daraufhin ging Gertruds Mutter, die Englisch konnte, mit einigen Männern zu den US-Offizieren nach Anröchte, damit die Militärpolizei dieser Gewalt ein Ende setzte.

Symbolbild: Eine Frau steht vor Kriegstrümmern (Foto: dpa)
Kriegsende 1945: Frauen hatten Angst vor sexueller GewaltBild: picture-alliance/dpa

Am 8. Mai hörte Gertrud, wie die amerikanischen Soldaten lautstark die deutsche Kapitulation feierten. "Es war eine Befreiung", sagt sie 70 Jahre später, "eine Niederlage war es ja vor allem für die Hitler-Leute." Mit den Nationalsozialisten hatte ihr Vater von Anfang an Probleme gehabt. Hubert Kitschen, Bürgermeister von Waldfeucht am westlichsten Zipfel Deutschlands, war sehr kritisch und "der einzige Bürgermeister im Kreis, der nicht in der NSDAP war", berichtet Schwester Christa, wie Gertrud Kitschen heißt, seit sie 1952 in den Orden der Arenberger Dominikanerinnen eintrat.

Schwester Christa in Ordenstracht im Klosterpark (Foto: Andrea Grunau)
Für Schwester Christa ist ihr Vater auch 70 Jahre nach seinem Tod noch ein wichtiges VorbildBild: Andrea Grunau

"Jede Nacht woanders schlafen", das sind ihre ersten Erinnerungen als Kind in den 1930er Jahren. Später erfuhr sie: Nachts zogen Nationalsozialisten vor ihr Haus, warfen Steine. Der Vater schickte Frau und Kinder weg, er blieb daheim. Die Bedrohung hielt an, erst warnte ihn der Dorfpolizist vor einer Verschwörung gegen ihn, dann ein Freund, der sagte, er müsse sofort ins Ausland. Hubert Kitschen ging nach Holland. Er hatte dort gute Freunde, die er im Ersten Weltkrieg kennen gelernt hatte. Ab und zu kam er nachts zurück, um nach seiner Familie zu sehen. Gertrud und ihre Geschwister wussten nur: "Vater ist verreist", damit sie nicht ausgehorcht werden konnten. Im Spitzelsystem des NS-Staats, sagt sie, konnte man niemandem trauen.

NS-Terror und Kriegsbeginn

Dass dieser Staat Verbrechen verübte, wussten viele, sagt Schwester Christa. Die Bäckersfrau hatte einen behinderten Sohn, der immer im Rollstuhl im Geschäft saß. Eines Tages war der Junge weg, seine Mutter hatte verweinte Augen. "Keiner hat gefragt", sagt Schwester Christa, "alle wussten Bescheid." Kurz darauf bekam die Mutter ein Telegramm mit der Nachricht, ihr Sohn sei an einer Lungenentzündung gestorben. Er war offenbar Opfer des sogenannten "Euthanasie-Programms" geworden, der systematischen Ermordung von Menschen mit Behinderungen.

Tante Toni, Freundin von Gertruds Mutter und Lehrerin in Mönchengladbach, versteckte eine jüdische Familie mit zwei Kindern, zunächst in einer Waldhütte, berichtet Schwester Christa. Als ihnen die Entdeckung drohte, holte die Lehrerin die vier nachts aus dem Wald-Versteck in die Stadt. Die jüdische Familie hat den Krieg überlebt und ging später nach Israel, berichtet die Ordensfrau.

Direkt an der Grenze erlebte Gertrud Kitschen mit, wie sich die deutschen Soldaten Anfang Mai 1940 zum Einmarsch in die Niederlande rüsteten. In der Nacht davor schliefen einige bei ihnen im Haus. Den ganzen Tag sah sie die Soldaten über die Grenze marschieren, die Bevölkerung reichte ihnen Getränke und Brote: "Das waren noch die 'siegreichen' Truppen."

Deutsche Soldaten errichten eine Notbrücke (Foto: picture-alliance/Ullstein)
1940: Die Wehrmacht marschiert in die Niederlande einBild: picture-alliance/Ullstein

Als die Deutschen einrückten, musste ihr Vater die Niederlande verlassen. Man riet ihm, nach England zu fliehen, doch er wollte nicht so weit weg. Nachts kam er wieder nach Hause. Sein Freund schlug vor: "Ich lasse dich im Militär untertauchen." Er brachte Kitschen bei der Wehrmacht unter. An die Front musste er nicht, weil er nach Magen- und Lungenverletzungen im Ersten Weltkrieg noch unter den Folgen litt. Er kam nach Dortmund, wo er als Hauptmann zuständig für die französischen Kriegsgefangenen war. Er setzte sich für die Gefangenen ein, sagt seine Tochter, "sie standen voll hinter ihm".

Evakuierung mit französischer Hilfe

Im September 1944 kam für den Rest der Familie der Krieg zuhause an. Als Gertrud und ihre Schwester zur Schule kamen, hörten sie, dass die Front schon ganz nah war. "Der Nazi-Direktor war schon geflohen mit seiner Familie." In Waldfeucht kamen wieder deutsche Soldaten an, ganz anders als 1940: "völlig entkräftet und zerlumpt", mit wunden Füßen, auf dem Rückmarsch aus den Niederlanden, Frankreich und Belgien.

Amerikanische Soldaten durchbrechen bei ihrem Vormarsch den "Westwall" (Foto: picture-alliance/dpa)
1944: Amerikaner durchbrechen den 'Westwall'Bild: picture-alliance/dpa

Waldfeucht in der Nähe des sogenannten Westwalls wurde zwangsevakuiert, die Kitschens fuhren mit Fahrrädern zu Verwandten in Dülken, doch dort fielen immer mehr Bomben. Eines Nachts kam ihr Vater mit dem französischen Geistlichen "Monsieur Didier" und Verbindungsmann "Monsieur Victoria" in deren Rot-Kreuz-Fahrzeug, um Frau und Kinder auf den Bauernhof zu bringen. Monsieur Didier schaute liebevoll auf Gertruds kleine Schwester mit ihrer Puppe im Arm. "Feinde helfen Feinden - warum?", fragte ihre Mutter. Und antwortete selbst: "Weil die Menschen böse sind, aber auch gut."

12. März 1945 - der schwerste Angriff auf Dortmund

Anfang März 1945 hatte Hubert Kitschen wegen seiner alten Verwundung starkes Magenbluten. Die Dortmunder Krankenhäuser waren nach vielen Bombenangriffen völlig überlastet, er fuhr zur Familie aufs Land, lag krank im Bett. Doch Didier und Victoria kamen und baten ihn dringend, zurück nach Dortmund zu kommen, wo die französischen Gefangenen den Bombenangriffen unter freiem Himmel schutzlos ausgeliefert waren. Kitschen hatte sich für ihre Evakuierung aufs Land eingesetzt. Ohne ihn ging sie nicht voran.

Man muss das verstehen, sagt Schwester Christa: Sie waren Jahre in Gefangenschaft, das Kriegsende in Sicht, da wollten sie nicht noch sterben. "Vater ist mitgefahren", erinnert sich die Tochter. In zwei Tagen erreichte er, dass die meisten Franzosen Dortmund verlassen konnten. Am 12. März 1945 flogen die Alliierten einen Großangriff auf Dortmund, er gilt als schwerster Angriff auf eine deutsche Stadt. Hubert Kitschen war im Bunker, doch durch den Luftschacht fiel eine Mine, er starb. Es ist 70 Jahre her, doch der Schmerz steigt wieder auf. Schwester Christa weint, als sie davon erzählt.

Französische Kriegsgefangene (1940) (Foto: Bundesarchiv-101I-055-1592-05A)
Französische Kriegsgefangene - Hoffnung auf HeimkehrBild: Bundesarchiv-101I-055-1592-05A

Nach dem Kriegsende: Papiere weg, Nazis noch da

Die befreiten Franzosen setzen sich nach Kriegsende für die Familie ein: "Didier und Victoria gingen nach Frankreich zurück, hatten aber die Amerikaner gebeten, Mutter einen Schutzbrief zu schreiben, weil Vater ihnen so viel geholfen hatte." Mit diesem Brief konnten sie sich nach Hause durchschlagen.

Russische Soldaten auf dem Rückweg in die Heimat hatten der Mutter den Rucksack mit allen Dokumenten entrissen, ohne Papiere bekam sie vorläufig keine Versorgungsleistungen. Das war schwer für sie, doch die Kitschens wussten, was diese Männer durchgemacht hatten. Gertruds Vater hatte gesagt: "Wenn euch mal etwas passiert, vergesst nicht, was wir den Russen angetan haben." Er hatte gesehen, dass in Dortmund verplombte Waggons von der Ostfront ankamen, voll mit Leichen. Die anderen sowjetischen Kriegsgefangenen mussten ihre toten Kameraden herausholen.

Bei den Kitschens war das Geld in den nächsten Jahren extrem knapp. Noch schwerer auszuhalten war das Verhalten vieler Menschen. Die alten Nazis seien alle "umgekippt", sagt Schwester Christa, sie legten eine rasante politische Wende hin und erzählten "lauter Lügen". Ihre Mutter habe das kaum ertragen können. "Gut, dass Vater tot ist", sagte sie dann bitter, "der hätte wieder die Wahrheit gesagt."

Als die Landwirte die Felder bestellen wollten, "sind viele Bauern mit Pferd in die Luft geflogen. Dann hat keiner mehr gepflügt und gesät. Jahrelang, bis die ganzen Felder entmint waren." Es gab fast nichts zu essen. Weil die Mutter unter Herzattacken litt, kümmerte sich die 15-jährige Gertrud um die Versorgung der Familie: zwei Scheiben Maisbrot pro Tag und Person, dazu kochte sie "eine Mehlpampe", vermischt mit Petersilie oder Muskat. Ihre Schulbrote gab sie ihrem Bruder, "der war im Wachstum". Sie ging morgens hungrig aus dem Haus, aß nur abends um sechs. Ihr Magen hat sich nie ganz erholt.

Schwester Christa umringt von Kindern in Bolivien (Foto: privat)
Die Arbeit in Bolivien, sagt Schwester Christa, war "die schönste Zeit meines Lebens"Bild: Privat

Kriegserfahrungen helfen beim Einsatz in Bolivien

1981 ging Schwester Christa für ihren Orden nach Bolivien. "Da sah ich, dass alles in meinem Leben einen Sinn hat", sagt die 85-Jährige: "Dass ich Hunger haben konnte, dass ich die Mütter verstehen konnte, die nichts hatten, denen die Kinder im Arm wegstarben." Sie berichtet von einer 12-Jährigen, die vergewaltigt wurde, von der Sorge für elternlose Kinder und wie sie nachts in den Armenvierteln unterwegs war, wenn jemand in Not war. "Das konnte ich alles nachfühlen, denn ich hatte das in meiner Kindheit selbst gesehen und miterlebt." Das gab ihr Kraft für ihre Arbeit, sagt die Ordensfrau dankbar.

Bilder aus den Kriegen von heute gehen ihr nah: "Durch die Wüste kommt eine Prozession, voran eine Frau mit einem Kind auf dem Arm und Kindern an ihrer Seite. Die geht mir durchs Herz, Tage und Wochen schon und ich frage Gott: Warum? Und wieso sind wir hier so unberührt?"