Blauhelme zwischen Haitis Banden
2. Juni 2005Ein "normaler" Tag in Haiti: Ein französischer Honorarkonsul stirbt im Kugelhagel, eine Bande tötet anderswo in der Hauptstadt Port-au-Prince mindestens fünf Menschen und setzt Polizeiwagen in Brand, ein Markt geht in Flammen auf. Weil Ereignisse wie die vom Dienstag (31.5.) in Haiti fast alltäglich sind, forderte das US-Außenministerium am vergangenen Donnerstag einen Großteil seiner Botschaftsmitarbeiter auf, den Karibik-Staat zu verlassen. Rund 620 Menschen, so schätzen Menschenrechtsorganisationen, wurden allein in den vergangenen sieben Monaten getötet.
Strafe für Taiwan-Besuch
Um ein Abgleiten des ärmsten Landes der westlichen Hemisphäre in den Bürgerkrieg zu verhindern, sind dort seit einem Jahr 6000 Blauhelmsoldaten und 1400 UN-Polizisten stationiert. Deren Mandat lief am Mittwoch (1.6.05) ab und eine Verlängerung um ein weiteres Jahr - wie von UNO-Generalsekretär Kofi Annan empfohlen - scheiterte im Sicherheitsrat am Widerstand Chinas.
Der Grund dürfte ein für Juli 2005 geplanter Besuch des haitianischen Interimspräsidenten Alexandre Boniface in Taiwan sein, denn für Peking, das Taiwan als Teil Chinas betrachtet, ist der Besuch ein Affront. Der Sicherheitsrat verlängerte das Mandat der Mission am Mittwoch daher zunächst nur um 24 Tage.
Aristide muss draußen bleiben
Auch wenn Haiti noch weit von Stabilität entfernt sei, habe die UN-Mission die Situation deutlich verbessert, sagt Jürgen Heppe, Haiti-Experte des Deutschen Roten Kreuzes. Selbst in entlegenen Dörfern seien Mitarbeiter der Stabilisierungsmission MINUSTAH präsent. "Die Truppen haben dem Land die Luft gegeben, einen neuen Stabilisierungsprozess zu beginnen", erklärt Bert Hoffmann vom Institut für Iberoamerika-Kunde in Hamburg. "Würden sie abgezogen, könnten die für Ende des Jahres geplanten Wahlen nicht stattfinden." Diese seien jedoch elementar. "Eine neue Regierung könnte sukzessive wieder die Aufgabe übernehmen, Sicherheit und Ordnung zu schaffen", glaubt Hoffmann. Allerdings sei auch Skepsis geboten, da es die Interimsregierung um Premierminister Gérard Latortue nicht geschafft habe, die Anhänger des Anfang 2004 vor Unruhen geflohenen Präsidenten Jean-Bertrand Aristide einzubinden: "Aristide müsste gestattet werden, ins Land zu kommen, doch er wird wegen Korruption per Haftbefehl gesucht." Das Aristide-Lager sehe in dem Armenprediger nach wie vor den rechtmäßigen Präsidenten.
An erster Stelle müsse eine umfassende Entwaffnung der Bevölkerung stehen, fordert Jens Pössel, Sprecher von Amnesty International. Es komme immer wieder zu Gewaltexzessen der zahlreichen rivalisierenden Banden, die auch von politischen Gruppen instrumentalisiert würden. Die haitianische Polizei sei nicht in der Lage, die Menschenrechte zu schützen und sei zum Teil selbst an Entführungen, Massenexekutionen und Selbstjustiz beteiligt.
Banden stärker als der Staat
Diese Situation hält Walther L. Bernecker für den Normalfall. "Seit Haiti vor zweihundert Jahren unabhängig wurde, hat es nie funktionierende staatliche Strukturen gehabt", sagt der Autor des Buches "Kleine Geschichte Haitis". Die Bedeutung der informellen, bewaffneten Gruppen sei weitaus größer als die der Staatsorgane. Es sei daher kaum zu erwarten, dass sich schnell grundsätzliche Verbesserungen erzielen lassen würden: "Die Schutztruppe kann keine Strukturen aufbauen, sondern nur verhindern, dass sich die Banden die Köpfe einschlagen."
Das dürfte sie trotz des gegenwärtigen chinesischen Widerstandes gegen eine Verlängerung des Mandats auch noch eine Weile tun: Presseberichten zufolge halten es UN-Diplomaten für höchst unwahrscheinlich, dass China so kurz vor den haitianischen Wahlen ein Ende der Mission erzwingen würde.