Booster-Impfung: Auf Kosten armer Länder?
21. November 2021"Niemand ist sicher, bis alle sicher sind" – diesen Grundsatz verkündeten Politiker und Politikerinnen immer wieder, als sie globale Impfstrategien und Programme entwarfen, um die Corona-Pandemie in den Griff zu bekommen. Nach rund zwei Jahren Pandemie ist dieses hehre Ziel der Realität gewichen. Zwischen reicheren und einkommensschwächeren Ländern klafft eine riesige Impflücke. Während in europäischen Staaten die Impfquoten von vollständig Geimpften bei teilweise über 70 Prozent liegen, haben in Niedrigeinkommensländern gerade einmal 4,4 Prozent der Menschen eine erste Impfung gegen COVID-19 erhalten.
Ein Fehler für alle, meint der Gesundheitsökonom Michael Stolpe. "Impfgerechtigkeit, also der gleiche Zugang zu Impfstoffen für alle, ist nicht nur eine Frage der Gerechtigkeit, sondern auch der Effizienz. Es ist die beste Gewähr gegen eine Ausbreitung des Virus und Fluchtmutationen." Denn in einer Bevölkerung mit vielen Geimpften und Ungeimpften können sich Virus-Mutationen entwickeln, gegen die dann womöglich auch die Impfstoffe nicht mehr wirken.
COVAX sollte Gerechtigkeit bringen
Um das auf einer globalen Ebene zu verhindern, wurde Anfang 2020 die Initiative COVAX gegründet – ein Gemeinschaftsprojekt der Weltgesundheitsorganisation (WHO), der Europäischen Kommission und Frankreichs. Über die Plattform sollte sowohl Geld gesammelt, um Impfdosen zu kaufen, als auch Spenden von Impfdosen aus reicheren Ländern entgegen genommen werden, um sie auf ärmere Länder zu verteilen. "COVAX hat seinen Wert, was die gerechte Verteilung betrifft", sagt Mareike Haase, Referentin für internationale Gesundheitspolitik bei der Hilfsorganisation Brot für die Welt. Allerdings habe das System bei der flächendeckenden Versorgung mit Impfstoff nicht funktioniert.
Tatsächlich hat COVAX seine Impfziele bisher nicht erfüllt. Statt der anvisierten zwei Milliarden Impfdosen für ärmere Länder wurde über COVAX nur rund ein Viertel dieser Menge ausgeliefert. Das hat mehrere Gründe: Reichere Länder schlossen bilaterale Verträge mit Impfstoffherstellern und kauften damit den Markt leer. Die Impfstoffhersteller selbst halten ihre zugesicherten Liefermengen an COVAX nicht ein. Und ein zeitweiser Exportstopp in Indien, das große Mengen Impfstoff für den globalen Süden produzierte, lähmte auch COVAX. Dennoch hat sich COVAX ein neues Ziel gesetzt: Bis zum Ende des Jahres sollen 40 Prozent der Bevölkerung in jedem Land der Welt immunisiert sein. Doch schon jetzt ist absehbar, dass vor allem in Afrika viele Länder dieses Ziel nicht erreichen werden.
Booster vs. erste Impfung
Und nun gibt es ein weiteres Problem: die Auffrischungsimpfungen. Während in vielen afrikanischen Ländern gerade die Corona-Inzidenzen sinken, explodieren sie regelrecht in Europa, nicht zuletzt in Deutschland. Die Antwort darauf ist unter anderem eine dritte Impfung, eine sogenannte Booster-Impfung, vor allem für Ältere und vulnerable Menschen, aber nicht nur. Dadurch werden erneut Millionen an Impfdosen benötigt. Die WHO befürchtet, das geschehe auf Kosten der ärmeren Länder. Breit angelegte Booster-Impfungen seien "unfair, ungerecht und unmoralisch" angesichts von ungeimpftem medizinischen Personal in vielen Ländern, twitterte WHO-Chef Tedros Adhanom Ghebreyesus.
Und die jüngste Äußerung von Bundesgesundheitsminister Jens Spahn dürfte für weitere Verunsicherung sorgen: "Wir haben sogar einen Teil unserer COVAX-Spenden, also internationalen Spenden mit BioNTech (-Impfstoff, d. Red.), jetzt aus Dezember in den Januar und Februar geschoben, um in Deutschland für diese Dinge genug Impfstoff zu haben." Deutschland steht keineswegs allein da mit seinem Vorgehen. Der 6. Oktober war der Tag, an dem die Anzahl der Booster-Impfungen in reichen Ländern die Gesamtzahl der Impfungen in einkommensschwachen Ländern überschritt.
Für die Referentin für internationale Gesundheitspolitik bei "Brot für die Welt", Mareike Haase, wird derzeit eine Konkurrenz zwischen Booster-Impfung und Erst- bzw. Zweitimpfungen im globalen Süden aufgemacht, die es so nicht geben müsse. "Das liegt auch an einem Organisationsfehler der Politik. Man müsste das nicht gegeneinander ausspielen. Hätte man vernünftig organisiert, hätte man beides machen können."
Haase kritisiert, dass es in Deutschland keine genauen Daten gibt, wie viele Impfdosen vorrätig sind, "aber wir gehen davon aus, dass es etwa 80 bis 100 Millionen überschüssige Impfdosen in Deutschland gibt. Selbst wenn wir jetzt 70 Prozent (der Menschen, d. Red.) boostern würden, könnte man noch immer Impfdosen abgeben." Sonst bestünde die größte Gefahr darin, dass Millionen von Impfdosen vernichtet werden müssten.
Gesundheitsökonom Stolpe sieht auch ein gewisses Interesse der Impfstoffhersteller am Boostern. "Es ist gewinnbringender für Impfstoffhersteller, Impfstoffdosen in reichen Ländern zu verkaufen. Man kann vermuten, dass es im Sinne der Pharmaindustrie war, als schon im Sommer, als die Infektionszahlen noch nicht so hoch waren, die Rede davon war, die gesamte Bevölkerung zu boostern." Insgesamt sei eine Booster-Impfung aber vor allem für vulnerable Menschen sinnvoll. Für jüngere Menschen mit intaktem Immunsystem sei sie weitaus weniger dringend, wenn die Impfquote insgesamt höher wäre.
Produktion ausweiten und Anreize schaffen
Ist angesichts von klaffenden Impflücken und verschiedenen nationalen Interessen überhaupt noch eine anvisierte Impfgerechtigkeit möglich? Haase ist da wenig optimistisch. Helfen würde es aber, wenn die Impfstoffhersteller ihre vertraglich zugesicherten Dosen an COVAX auch tatsächlich ausliefern würden. So hat beispielsweise eine Untersuchung der "People's Vaccine Alliance", einer Koalition von zivilgesellschaftlichen Organisationen, die sich für einen breiteren Zugang zu COVID-19-Impfstoffen einsetzt, ergeben, dass Impfstoffhersteller wie Biontech und Moderna weniger als ein Prozent ihrer Impfdosen an einkommensschwache Länder verteilt hat.
Für Gesundheitsökonom Stolpe gäbe es noch eine weitere Lösung: COVAX könnte, anstatt sich auf den Kauf von Impfdosen zu konzentrieren, sehr viel Geld in die Hand nehmen und den Impfstoffherstellern die Patente abkaufen. Das wäre zwar teuer, würde sich aber langfristig lohnen, wenn sich durch eine erfolgreiche Impfkampagne die Wirtschaft erholen könnte. Denn mit den gekauften Patenten könnte COVAX kostenlose Herstellungslizenzen an qualifizierte Impfstoff- und Generika-Hersteller in Ländern des globalen Südens vergeben. "Es würde dann keine Konkurrenz mehr zwischen dem Boostern in reichen und der Erstimpfung in armen Ländern geben, weil ärmere Länder ihren Impfstoff selbst herstellen könnten. Gleichzeitig werden für die Patente so attraktive Preise angeboten, dass sich der Anreiz, weitere Impfstoffe zu entwickeln, noch verbessert", sagt Stolpe.
Allerdings sieht es derzeit nicht danach aus, als gäben große Impfstoffhersteller die Produktion ihrer Impfstoffe freiwillig aus der Hand. Im Gegenteil: Das Pharmaunternehmen BioNTech kündigte an, eigene Fertigungsstätten zur Impfstoffproduktion in Afrika aufzubauen. Mögliche Standorte könnten Ruanda und Senegal sein. Das wird allerdings noch dauern: Der Bau der Anlagen könnte wohl erst Mitte 2022 beginnen.