Bolsonaro und der Schatten des Militärs
22. April 2020"Ich bin hier, weil ich an euch glaube – ihr seid hier, weil ihr an Brasilien glaubt." Mit diesen Worten wandte sich Präsident Jair Messias Bolsonaro am vergangenen Sonntag (19.04.) an hunderte seiner Anhänger, die in der Hauptstadt Brasília gegen die von Gouverneuren und Bürgermeistern verhängten Corona-bedingten Schließungen demonstrierten.
Das Brisante daran: die Demonstranten forderten auch die Schließung des Kongresses und des Obersten Gerichtshofs, sowie die Wiedereinsetzung des 1968 erlassenen Dekrets "AI-5", mit dem die Militärdiktatur (1964-1985) Parlamente schließen und die Bürgerrechte einkassieren konnte. Auf Schriftzügen wurde zudem eine Militärintervention mit Bolsonaro an der Spitze gefordert.
Ein klarer Verstoß gegen die Verfassung. "Das hat den Unmut der Militärs geweckt, besonders weil Bolsonaro seine Rede vor dem Hauptquartier der Streitkräfte gehalten hat", erklärte der Historiker Carlos Fico gegenüber der Deutschen Welle.
Am Montagmorgen ruderte Bolsonaro zurück; er stehe zur Demokratie und zur Verfassung. Laut Presseberichten sollen ihm nahe stehende Militärs geraten haben, sich zu distanzieren. Nichts Neues, so Fico. "Bolsonaro hat schon mehrmals kriminelle Äußerungen getätigt, und sie dann zurückgenommen. Aber diesmal scheinen sich die Militärs, die ihn beraten, eingeschaltet zu haben."
"Der Verfassung Folge leisten"
Am Montag erklärte Verteidigungsminister Fernando Azevedo e Silva, ein hochrangiger General, dass die Streitkräfte "stets der Verfassung Folge leisten". "Solch eher allgemeine Erklärungen gehen in die Richtung, dass man die Demokratie respektiert", so Fico. "Aber das ist eher ein Eindruck als eine Gewissheit."
Dazu komme die Ungewissheit, wie das Militär zur vergangenen Diktatur (1964 bis 1985) stehe, so Fico. "Es gab nie die Bitte um Entschuldigung oder eine Anerkennung der schweren Menschenrechtsverletzungen. Im Gegenteil - stets verteidigen die Militärs die Diktatur, bis heute."
Die Diktaturzeit sei nie richtig aufgearbeitet worden, urteilt Annette von Schönfeld, Leiterin des Büros Rio de Janeiro der Heinrich Böll Stiftung. "Allerdings bin ich mir nicht sicher, ob die Demonstranten dieser Protestbewegung sich dieser Aufarbeitung stellen und offen für eine Revision ihrer Positionen sein würden."
Bolsonaro lotet ständig Grenzen aus
Für von Schönfeld steckt hinter Bolsonaros Rede System. "Er lotet ja seit seinem Amtsantritt aus, wie weit er gehen kann. Dabei sagt er eigentlich unsagbare Dinge, die er am nächsten Tag wieder zurücknimmt. Er etabliert dadurch einen Diskurs, und das ist gefährlich."
Sorge bereite ihr die halbherzige Reaktion des Militärs. "Man ist sich nicht mehr ganz sicher, wie klar die Ablehnung autoritärer Strukturen in manchen Teilen der Gesellschaft ist, und wie sich das Militär dazu verhalten würde. Eine eindeutige Distanzierung wäre besser gewesen", so von Schönfeld.
Dass Bolsonaro ohne greifbare Konsequenzen die Grenzen des moralisch Erlaubten austesten darf, sei eine bewusste Machtdemonstration des Präsidenten, so von Schönfeld. Zwar hätten Politiker und die Zivilgesellschaft protestiert, vor allem via soziale Medien. "In anderen Gesellschaften würde es Rücktrittsforderungen geben. Hier aber nicht."
Gouverneure distanzieren sich
Anja Czymmeck, Leiterin Auslandsbüros Brasilien der Konrad-Adenauer-Stiftung, drückt im Gespräch mit der DW ihr Vertrauen in die brasilianische Demokratie aus. So könnten Gouverneure und Bürgermeister ihre eigene Linie in der Corona-Krise durchziehen, und auch der Kongress arbeite unabhängig.
"Die Reaktion des Verteidigungsministers hat gezeigt, dass die Militärs für Frieden und Stabilität im Rahmen der Verfassung eintreten. Und die Militärs im Kabinett arbeiten bisher ja auch in dieser Richtung. Die Institutionen funktionieren", resümiert Czymmeck.
Dazu passt, dass der Oberste Gerichtshof am Dienstag Ermittlungen gegen die Organisatoren der Anti-Demokratie-Demonstration von Sonntag einleitete.
Mitr dem Rücken zur Wand
Die radikalen Demonstranten bildeten selbst unter Bolsonaros Wählern eine Minderheit, glaubt Historiker Carlos Fico. "Aber es hat eine symbolische Dimension, wenn der Präsident – zum wiederholten Mal – mit Demonstranten zusammenkommt, die derartige Spruchbänder hochhalten."
Bolsonaros Radikalisierung zeige, wie angeschlagen der Präsident ist. "Ich denke, dass der Präsident sehr besorgt ist, dass er mit einem Impeachment sein Amt verliert. Das ist heute ja eine konkrete Möglichkeit", so Fico.
Besonders wenn seine Zustimmungswerte, die Fico bei derzeit rund 30 Prozent verortet – weiter sinken. Und wenn die Wirtschaft demnächst in eine tiefe Krise einbricht, was angesichts der Corona-Krise unvermeidlich scheint. Experten halten derzeit mehrere Millionen neue Arbeitslose und einen Wirtschaftseinbruch von bis zu 5 Prozent in 2020 für möglich.
"Und wenn solch ein Prozess losgeht, werden sich die Militärs dem nicht in den Weg stellen", erläutert der Experte. In diesem Fall würde mit Vize-Präsident Hamilton Mourão übrigens ein hochrangiger General das Amt erben.