Brasiliens Sieg beim Auftaktspiel verbessert die Stimmung im Land.
13. Juni 2014Ohne Adrenalin geht es nicht. Brasilien ist nervös, seine Nationalmannschaft auch. Das ist in den ersten Minuten der Eröffnungspartie nicht zu übersehen. Und nur kurz nach dem Anpfiff verstummen die brasilianischen Fans. Verteidiger Marcelo hat den Ball ins eigene Tor gestolpert. Eigentor: 0:1, Kroatien liegt vorne. Beim traditionellen Straßenfest "Alzirão" in Rios Stadtteil Tijuca ist allen schlagartig klar: Die Lage ist ernst.
90 Minuten später ist der Jubel grenzenlos. Brasiliens hat das Spiel noch gedreht - und mit 3:1 gegen Kroatien gewonnen. Der Sieg beim Weltmeisterschafts-Auftaktspiel versetzt das Land in einen Freudentaumel. Erleichterung macht sich breit: Brasilien, das Land, das sich seit einem Jahr im Ausnahmezustand befindet, hat den ersten WM-Tag erfolgreich überstanden. Sportlich.
Euphorie und Depression
Der Adrenalinschub ist mehr als ein Drama in einer Telenovela, einer typisch brasilianischen Seifenoper. Seit der WM-Vergabe 2007 an das Land schwankt die Stimmung an der Copacabana zwischen Himmel hoch jauchzend und zu Tode betrübt. "Entweder fliegt Brasilien ganz am Anfang raus, oder es gewinnt die WM", meint Sportlehrer Pelé da Praia, der am Strand von Ipanema Beachvolleyball unterrichtet. "Dazwischen gibt es nichts."
"Es wird keine WM geben" - mit diesem Slogan protestieren Aktivisten seit einem Jahr gegen die hohen Ausgaben für das sportliche Megaevent. Ginge es nach ihrem Willen, wären die rund zehn Milliarden Dollar für die WM besser in die Bereiche Bildung und Gesundheit als in Stadien und Infrastrukturprojekte investiert worden. Doch nach dem ersten Tor von Stürmerstar Neymar ist klar: Es wird sehr wohl eine WM in Brasilien geben, auch wenn sie anders abläuft als geplant.
"Neymar hat unser Land gerettet", jubelt Kolumnist Ricardo Noblat in seinem Blog für die brasilianische Tageszeitung "O Globo". Euphorisch zitiert er zu Ehren des Spielers einen Ausschnitt aus der Fußballhymne des berühmten brasilianischen Dichters Carlos Drummond de Andrade: "Der Luftsprung des Spielers ist ein Triumph über das traurige Gesetz der Schwerkraft."
Das Chaos blieb aus
Die Spielkunst Neymars ließ 200 Millionen Brasilianer vor Freude in die Luft springen. Endlich Erfolg und Anerkennung statt Ärger und Chaos! War nicht noch bis vor wenigen Tagen daran gezweifelt worden, ob die WM-Arena "Itaquerão" in São Paulo rechtzeitig zur Eröffnung fertig wird? Hatte nicht erst zwei Tage zuvor ein Streik der U-Bahn-Fahrer in der Millionenmetropole zu einem Verkehrskollaps geführt?
Die Angst, sich vor der Weltöffentlichkeit mit Stromausfällen, Streiks und Straßenblockaden zu blamieren, löste bei vielen Fußballfans in Brasilien mindestens so viele Adrenalinschübe aus wie das Tor von Kroatien beim Auftaktspiel. Die Verzögerungen beim Bau der WM-Stadien und Flughafen-Erweiterungen hatten selbst bei Stress erprobten Brasilianern schlimmste Befürchtungen hervorgerufen.
Die angestaute Wut entlud sich während der Eröffnungsfeier vor laufenden Kameras. Während Brasiliens Nationalelf bei ihrem Einzug ins Stadion frenetisch gefeiert wurde, ließen die Stadionbesucher ihrem Zorn auf Staatspräsidentin Dilma Rousseff und Fifa-Präsident Joseph Blatter freien Lauf. 36 lange Sekunden mussten die beiden Amtsträger Buhrufe und Beschimpfungen vor laufenden Kameras aushalten.
Aktivisten gegen Fußballfans
Auf Rios Fanmeilen stimmte das Publikum geschlossen in die Buhrufe ein. "Dilma muss weg", stellt ein Demonstrant an der Copacabana klar und stellt eine These auf, die bei brasilianischen Fußballfans mächtig Ärger auslöst, weil sie etwas Undenkbares in Erwägung zieht: "Wenn Brasilien verliert, verliert vielleicht auch Dilma bei den Präsidentschaftswahlen am 5. Oktober."
Dass einige Demonstranten aus politischen Gründen die Gegner der Seleção anfeuern, kommt bei den meisten brasilianischen Fußballfans überhaupt nicht gut an. Als beim Fanfest an der Copacabana Aktivisten beim Tor von Kroatien laut jubelten und dann auch noch Neymar nach seinem ersten Treffer ausbuhten, musste die Polizei eingreifen und bildete einen Sicherheitskorridor von 200 Mann, um Fans und Demonstranten auf Abstand zu halten.
Auch in São Paulo, wo Polizisten mehrere Kundgebungen gewaltsam auflösten, wurde die wachsende Kluft zwischen Bevölkerung und Demonstranten deutlich. Gewerkschafter, Obdachlosenvertreter und Mitglieder des Schwarzen Blocks zogen durch verlassene Straßen und lieferten sich Schlachten mit der Polizei. Ein Schild an dem Balkon eines Hochhauses fasst in wenigen Worten zusammen, was viele Brasilianer denken: "Protest findet an der Wahlurne statt. Dilma raus, die WM wird laufen."
Volleyballer Pelé da Praia ist nach dem 3:1 optimistischer. "Brasilien ist nicht rausgeflogen, jetzt können wir es ins Endspiel schaffen!" Aufs Feiern verzichtet er dennoch. Nach dem Höhenrausch hat sich sein Adrenalinpegel auf normalem Niveau eingependelt. Fußball ist wieder zur Nebensache geworden, die Gedanken an seine Arbeit holen ihn ein. In wenigen Stunden steht er am Strand von Ipanema wieder am Netz.