Harte Landung nach Höhenflug
8. Januar 2013Für die Wirtschaftslokomotive Lateinamerikas sind die jüngsten Prognosen eine Enttäuschung. Noch 2010 ließ das englische Wirtschaftsmagazin "The Economist" auf seinem Titelbild die Christusstatue wie eine Rakete von ihrem Platz auf dem Berg Corcovado abheben: 7,5 Prozent legte die Wirtschaftsleistung des Landes damals zu.
Nach diesem Höhenflug war die Landung in den beiden vergangenen Jahren umso härter: 2011 wuchs die Wirtschaft nur noch um 2,5 Prozent. 2012 kam es sogar noch schlimmer. Die anfangs guten Prognosen korrigierte die Regierung im Laufe des Jahres immer wieder nach unten, am Ende war ein einziges Prozent übrig. Dementsprechend skeptisch sind viele Beobachter was die für 2003 prognostizierten 3,3 Prozent betrifft.
Das Land hat seine Führungsposition in Lateinamerika verloren und ist auch innerhalb der BRICS-Staaten (Brasilien, Russland, Indien, China und Südafrika) auf den letzten Platz der Konjunktur-Charts gefallen.(s. Grafik).
Hausgemachte Probleme
Für die schlechten Wirtschaftsdaten machen Experten nicht nur externe Faktoren wie den weltweiten Konjunktureinbruch im vergangenen Jahr und die Überbewertung der einheimischen Währung "Real" verantwortlich. Viele Ursachen seien hausgemacht.
Nach Einschätzung des Finanzexperten Samy Dana, Professor am brasilianischen Wirtschaftsinstitut Getúlio Vargas (FGV), fehlt es der Regierung an einer klaren wirtschaftspolitischen Ausrichtung: "Ich habe den Eindruck, dass die Regierung die Lage nicht im Griff hat." Ihr Zickzackkurs sei wie der Versuch der Feuerwehr, einen Flächenbrand mit einem Wasserstrahl zu löschen: Immer wieder gewährt die Regierung schwächelnden Branchen vorübergehend Steuererleichterungen.
Die Möglichkeiten, durch günstige Kredite und temporäre Steuervergünstigungen für bestimmte Industriegüter Wachstumsimpulse zu geben, meint Dana, seien ausgeschöpft. Stattdessen müsse die Regierung grundlegende Reformen in Bildung und Infrastruktur angehen.
Auch die bereits 1995 von dem damaligen Staatspräsident Fernando Henrique Cardoso angekündigte Steuerreform stehe noch aus. Das brasilianische Steuersystem gilt als eines der kompliziertesten der Welt. Vor allem ausländische Investoren schreckt das ab. Einheimische Unternehmen schützte das jahrelang vor Konkurrenz; nun fehlt vielen von ihnen die Fähigkeit, mit dem internationalen Wettbewerb Schritt zu halten.
Hohes Lohnniveau
Vor diesem Hintergrund sind auch die überdurchschnittlichen Lohnzuwächse im größten Land Lateinamerikas umstritten. 2011 überstieg das Lohnplus mit 2,7 Prozent die weltweite Ziffer um mehr als das Doppelte.
Zum Jahresbeginn 2013 wurde der Mindestlohn, der an die Inflationsrate gebunden ist, erneut um neun Prozent auf umgerechnet 251 Euro monatlich angehoben. Davon profitieren in Brasilien nicht nur Geringverdiener, da die Arbeitsverträge den Lohn als ein Vielfaches des Mindestlohns angeben. So schön das für die Angestellten ist - die Wettbewerbsfähigkeit des Landes werde dadurch beeinträchtigt - zumal ein Mangel an qualifizierten Arbeitskräften herrsche, sagt Wirtschaftsexperte Dana.
Erfolgreiche Armutsbekämpfung
Im Gegensatz zu vielen Analysten bewertet Manuel Enriquez Garcia, Wirtschaftsprofessor an der Universität von São Paulo (USP), die Entwicklung eher positiv und warnt vor übertriebenem Pessimismus: "Die Lohnzuwächse und die niedrige Arbeitslosenquote sind echte Fortschritte", betont Garcia. Auch die Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD) lobte Brasiliens Erfolge der vergangenen Jahre im Kampf gegen die Armut. Mittlerweile würden fast 60 Prozent der rund 200 Millionen Brasilianer der Mittelschicht angehören.
Für 2014 rechnen Experten mit einem leichten Aufschwung. Die offiziellen Prognosen liegen bei einem Wirtschaftswachstum von 4,5 Prozent. Staatspräsidentin Dilma Rousseff hofft deshalb nicht nur auf einen Sieg Brasiliens bei der WM im eigenen Land, sondern auf ihre Wiederwahl im darauf folgenden Oktober: Dafür aber werden die wirtschaftlichen Ergebnisse wichtiger sein als die auf dem Rasen.