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Braune Schatten über der documenta in Kassel

Ingo Arend
23. Februar 2020

Die Ausstellung von 1955 gilt als Gründungsmanifest einer neuen Moderne in Deutschland. Die erste documenta zeigte Kunst, die in der NS-Zeit nicht ausgestellt werden durfte. Dabei war ein Mitinitiator NSDAP-Mitglied.

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Werner Haftmann deutscher Kunsthistoriker
Werner Haftmann war Berater des documenta-Gründers und, wie jetzt herauskam, in der NSDAPBild: picture-alliance/dpa/Prestel Verlag

Versöhnung mit der Moderne. Ehrenrettung der "Entarteten Kunst", Bekenntnis zur Abstraktion. So lauten die Formeln, wenn die Rede auf die documenta kommt. Die 1955 gegründete "Weltkunstschau", die alle fünf Jahre in Kassel stattfindet, gilt wie kaum ein anderes Ereignis als Ausweis der politischen Läuterung der Deutschen nach dem Zweiten Weltkrieg und als Symbol des kulturellen Neuanfangs.

Arnold Bode, ihr Begründer, wollte den Besuchern vor allem die Arbeiten derjenigen Künstler nahebringen, die während der NS-Zeit unter der Bezeichnung "Entartete Kunst" in Deutschland verfemt wurden. Daher stand die Abstrakte Kunst, insbesondere die Abstrakte Malerei der 1920er und 1930er Jahre im Mittelpunkt der ersten Ausstellung in der Ruine des zerstörten Museums Fridericianum am Kasseler Friedrichsplatz. Seitdem hat sich die documenta zur wichtigsten Kunstausstellung der Welt entwickelt.

Werner Haftmann: Wichtigster Berater des Gründervaters

Arnold Bode Begründer der Documenta
Arnold Bode, der Begründer der documenta, wurde von Haftmann beratenBild: picture-alliance/dpa

Über dieser international renommierten Ausstellung lasten inzwischen braune Schatten. Im letzten Jahr wurde bekannt, dass der Kunsthistoriker Werner Haftmann, der wichtigste Berater Arnold Bodes, von 1937 bis 1945 Mitglied der NSDAP gewesen war.

Die Enthüllungen markieren eine unerwartete neue Etappe deutscher Vergangenheitsbewältigung. Vor wenigen Wochen hatte ein Hobbyhistoriker die NS-Verstrickungen von Alfred Bauer, dem Gründungsdirektor des Filmfestivals Berlinale aufgedeckt. Nun hat die unbewältigte Vergangenheit auch die documenta eingeholt. Seitdem entwickelt sich in der deutschen Öffentlichkeit ein heftiger Streit über die Konsequenzen für die documenta und den deutschen Kunstbetrieb.

Tagung in Berlin macht NSDAP-Vergangenheit Haftmanns öffentlich

Julia Friedrich im Gespräch mit Mela Davila vor Publikum
Die Kunsthistorikerin Julia Friedrich (r.) bei der DHM-Tagung im Oktober 2019Bild: DHM/David von Becker

Die Erkenntnisse zu Tage gefördert hatten der Cambridger Historiker Bernhard Fulda und die Kölner Kunsthistorikerin Julia Friedrich, Leiterin der Grafischen Sammlungen des Museums Ludwig. Bei ihren Recherchen im Bundesarchiv hatten sie die NSDAP-Mitgliedskarte Haftmanns entdeckt. Bei einer Tagung des Deutschen Historischen Museums (DHM) Mitte Oktober 2019 hatten sie die Erkenntnisse erstmals einer breiteren Öffentlichkeit vorgetragen.

Der 1912 geborene und 1999 verstorbene Haftmann hatte in Berlin und Göttingen Kunstgeschichte studiert. Nach seiner Promotion arbeitete er Ende der dreißiger Jahre des 20. Jahrhunderts im Kunsthistorischen Institut in Florenz. Später wechselte er als Dolmetscher hinter der Front zum deutschen militärischen Kunstschutz in Italien. Haftmann selbst hatte später immer behauptet, nur einfacher Wehrmachtssoldat gewesen zu sein.

Der spätere Haftmann: Ein Verteidiger der Moderne

Nach dem Krieg erarbeitete sich der Wissenschaftler als Dozent an der Kunsthochschule in Hamburg und Autor des Feuilletons der "Zeit" einen Ruf als Verteidiger der Moderne. 1955, 1959 und 1964 entwickelte er zusammen mit Arnold Bode die Leitideen der ersten drei documenta-Ausstellungen. 1976, wenige Jahre nach dem Ausscheiden aus der documenta, wurde er erster Direktor der Neuen Nationalgalerie in Mies van der Rohes Glasbau im Berliner Tiergarten.

Bernhard Fulda steht am Rednerpult
Der Historiker Bernhard Fulda bei der DHM Tagung im Oktober 2019Bild: DHM/David von Becker

Ebenfalls entdeckt hatten Bernhard Fulda und Julia Friedrich einen Aufsatz Haftmanns in der NS-Zeitschrift "Kunst der Nation", in dem dieser den Nazis 1934 den Expressionismus als von "deutscher Art" anpries.

Haftmann beschwor die "Abstraktion als Weltsprache"

Nach 1945 vollzog Haftmann einen Schwenk von der deutsch-nationalen Rhetorik und pries den Expressionismus als Medium europäischer Verflechtung. In seinem 1954 erschienenen Standardwerk "Malerei des XX. Jahrhunderts" beschwor er die globale Sendung der Moderne und prägte das Mantra von der "Abstraktion als Weltsprache".

Diese Neuausrichtung hielt Haftmann nicht davon ab, einen Maler wie Emil Nolde zu einem der "inneren Emigranten" zu adeln. Obwohl Nolde von den Nazis als "entartet" gebrandmarkt worden war, hatte er versucht, sich ihnen anzudienen. Zugleich blieb er Antisemit. Noldes Selbstinszenierung zwischen Verfemung und Legende hatte Bernhard Fulda im Frühjahr 2019 in der Ausstellung "Emil Nolde. Ein Künstler im Nationalsozialismus" im Berliner Kunstmuseum Hamburger Bahnhof aufgezeigt. 

Kunstausstellung Documenta 2 in Kassel 1959 Werner Haftmann
Werner Haftmann spricht 1959 bei der Eröffnung der documenta 2 in KasselBild: picture-alliance/dpa

Das wankende Selbstbild der documenta

Im Licht der jüngsten Erkenntnisse zu Haftmann gerät das (Selbst-)Bild der documenta ins Wanken. Die große Erzählung von der Wiedergutmachung gegenüber Verfemten und "Entarteten" und das Bekenntnis zur Moderne wirken plötzlich unglaubwürdig.

Denn dieses documenta-Narrativ diente offenbar als taktisches Kalkül zur Selbstreinwaschung und zur Abwehr der Vergangenheit: "Die Beschäftigung mit der Moderne nach 1945 diente der Reinwaschung, denn wer sich für die Moderne engagierte, musste keine Fragen zu seiner Tätigkeit vor 1945 fürchten" erläutert der Münchener Kunsthistoriker Christian Fuhrmeister das Motiv hinter dem Wechsel der kunsthistorischen Begründungsmuster. Mag sich die documenta spätestens ab ihrer fünften Ausgabe 1972 auch zu einer Schau der kritischen Weltsicht entwickelt haben, ist mit dem Bekanntwerden dieser Zusammenhänge ihr Mythos nun dahin.

Werner Haftmann als "graue Eminenz"

In Kassel reagieren die Institutionen verhalten auf die neuen Erkenntnisse. Die Kulturmanagerin und Literaturwissenschaftlerin Sabine Schormann, seit November 2018 Generaldirektorin der documenta-Gesellschaft, begrüßte die "unabhängige, wissenschaftliche und kritische Auseinandersetzung mit der eigenen Geschichte".

Auf der offiziellen Webseite der documenta wird Werner Haftmann aber immer noch als "graue Eminenz" der Schau bezeichnet. Ein Hinweis auf die jüngsten Erkenntnisse fehlt. Ebenso fehlt er in der Ende 2019 eröffneten Dauerausstellung "about documenta" in der Neuen Galerie in Kassel, die sich mit der Geschichte der bislang 14 Ausgaben der Kunstschau beschäftigt. In zwei Sälen wird die tragende Rolle des Kunsthistorikers mit Zitaten und Fotos demonstrativ herausgestellt.

Aufarbeitung der politischen Geschichte geplant

Bundespräsident Heuss auf der ersten Documenta im Gespräch mit Arnold Bode vor einem Picasso-Gemälde
Der damalige Bundespräsident Theodor Heuss besuchte die erste documenta 1955Bild: picture-alliance/dpa

Die documenta will nun, so Direktorin Schormann, die weitere Erforschung der NS-Vergangenheit ihrer Gründergeneration dem documenta-Institut und dem documenta-Archiv übertragen. Es ist aber fraglich, ob das gelingen kann. Denn das neue Haus, für das das Land Hessen sechs Millionen Euro bereitgestellt hat, ist längst noch nicht arbeitsfähig. Auch das documenta-Archiv eignet sich für die Aufgabe nur bedingt, weil die betreffenden Akten verstreut über Archive im ganzen Bundesgebiet sowie in während des zweiten Weltkriegs von den Nazis besetzten Gebieten liegen.

Viele WissenschaftlerInnen plädieren deshalb für eine unabhängige HistorikerInnenkommission - analog zu den Kommissionen, die Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier und das Bundesverfassungsgericht kürzlich eingesetzt haben. Sie sollen die NS-Vorgeschichte und Verflechtungen des Bundespräsidialamtes und des höchsten deutschen Gerichtes untersuchen.

Einen neuen Höhepunkt dürfte die Debatte erreichen, wenn im nächsten Frühjahr das Deutsche Historische Museum in Berlin (DHM) eine Ausstellung zur "Politischen Geschichte der documenta" eröffnet. Die Idee zu dieser Schau hatte dessen Direktor Raphael Gross kurz nach seiner Ernennung im Frühsommer 2017 als eines seiner zentralen Arbeitsfelder benannt. Darin soll es auch um die Aufarbeitung der NS-Vergangenheit der documenta-Protagonisten gehen.

Ingo Arend Autor, Kritiker Präsidium der neuen Gesellschaft für bildende Kunst (nGbK)