Bremen, der deutsche Corona-Impf-Champion
13. Oktober 2021Im Bremer Gesundheitsministerium angerufen hatte Jens Spahn nicht, um zu fragen, wie das Erfolgsgeheimnis lautet. Aber vielleicht reicht es ja auch, wenn der Bundesgesundheitsminister in diesen Wochen sagte: "Wenn wir überall die Impfquoten von Bremen hätten, dann könnten wir den dänischen Weg gehen, also deutlich mehr Normalität möglich machen."
Bremen, der deutsche Impf-Musterknabe, ein Ritterschlag, der runtergehen müsste wie Öl. Aber Claudia Bernhard, seit zwei Jahren Gesundheitssenatorin von Bremen und damit die Hauptverantwortliche der Erfolgsgeschichte, hat die Aussage Spahns noch nicht mal mitbekommen. Sie sagt nur: "Es ist beispielhaft, wie wir das geschafft haben. Weil wir uns auf eine gemeinsame Mission verständigt haben: Wirtschaft, Betriebe, Verwaltung, Hilfsorganisationen und Freiwillige."
Bremen, ausgerechnet Bremen, muss man sagen, das Bundesland, das in so vielen Statistiken wie Armut, Bildung und Schulden im Ländervergleich Schlusslicht ist, hat schon 80 Prozent der Bevölkerung geimpft. Natürlich hat es das Bundesland mit den beiden Großstädten Bremen und Bremerhaven und den knapp 700.000 Einwohnern als Stadtstaat ein wenig einfacher, an die Unentschlossenen heranzukommen.
Bremer Wir-Gefühl beim Impfen
Aber wer durch die Bremer Straßen geht, der spürt, was Bernhard so ausdrückt: "Hier ist ein Geist entstanden, Bremen beim Impfen flott voranzubringen. Die Menschen sind stolz, an der Spitze zu sein. Und dazu gehört auch, manche Bürokratie in diesen Zeiten außen vor zu lassen, um flexibel reagieren zu können." Wenn Bernhard bei der wöchentlichen Video-Konferenz der Ländergesundheitsminister die Klagen ihrer Kollegen hörte, konnte sich die Linken-Politikerin immer beruhigt zurücklehnen.
Impfwillige, die keinen Termin bekommen, weil das Computersystem zusammenbrach? In Bremen lag die Einladung zur Impfung im Briefkasten. Endlos lange Warteschleifen in der Hotline? In Bremen eine Wartezeit von wenigen Sekunden. Unverständnis, wie die Corona-Infektionen plötzlich so in die Höhe schießen konnten? Bremen war das erste Bundesland, das die Ansteckungen getrennt nach Stadtteilen erhob.
Am liebsten wollte Bernhard ein großes Fest veranstalten, wenn Bremen die 80-Prozent-Marke knackt, zumindest hat sie im September allen Bürgern einen Brief geschrieben und sich dafür bedankt, dass sich so viele Menschen haben impfen lassen. Aber die Gesundheitssenatorin gibt sich noch längst nicht zufrieden: "Wir schaffen noch mehr, irgendetwas zwischen 80 und 85 Prozent ist möglich."
Aufklärungsarbeit in den Vierteln
Dafür sorgen vor allem Menschen wie Bülent Aksakal. Der 41-Jährige ist einer von elf sogenannten Gesundheitsfachkräften in Bremen. Sein Auftrag seit April: im ärmsten Stadtteil Gröpelingen über das Coronavirus zu informieren und aufzuklären, um so auch die letzten Impfskeptiker und Uninformierten in der Hansestadt von der Spritze zu überzeugen.
Er sagt: "Vor allem bei den jüngeren Menschen gibt es Widerstand, weil das Gefahrenbewusstsein kaum vorhanden ist. Sie sagen: 'Ich kann ja nicht schwer krank werden' und verstehen nicht, dass es auch eine solidarische Aktion für die anderen ist."
Gröpelingen ist das, was man hierzulande einen sozialen Brennpunkt nennt. Oder, freundlicher ausgedrückt, ein "Quartier mit besonderem Entwicklungsbedarf". Jedes zweite Kind wächst in Armut auf, die Einwohner leben oft auf engstem Raum und halten sich mit Billigjobs über Wasser. In Gröpelingen sterben die Menschen im Schnitt sieben Jahre früher als im betuchten Schwachhausen. Auch Gröpelingen war mal Corona-Hotspot, hier leben die Menschen, die den entscheidenden Unterschied machen, wenn man das Virus in Schach halten will.
Sprache ist Schlüssel, um Menschen zu erreichen
Vor allem Bulgaren, Rumänen und Türken wohnen im Nordwesten Bremens, viele Nachfahren der Gastarbeiter, die damals auf den Werften gearbeitet haben. Es ist Aksakals persönliche Lebensgeschichte: Auch seine Eltern waren zur Arbeit aus der Türkei gekommen, er ist in Bremen geboren. Und damit die Idealbesetzung, um in der türkischsprachigen Community Zugang zu den Menschen zu bekommen. "Gestik, Mimik und Austausch ist das Wichtigste in solchen Stadtteilen. Man muss eine Bindung aufbauen und kommunizieren können."
Schon die erste Impfaktion Ende Mai im Zentrum von Gröpelingen war ein voller Erfolg, es gab riesige Schlangen, 4300 Menschen ließen sich impfen. Und die überzeugten wiederum ihre Angehörigen, der gewünschte Domino-Effekt. Aksakal, der auch die Kinder im Viertel als Fußballcoach trainiert, praktiziert die sogenannte "aufsuchende Arbeit": Er sucht den direkten Kontakt zu den Menschen und hält Vorträge in den Integrationskursen, um möglichst viele Personen auf einen Schlag zu erreichen.
"Die häufigste Frage ist immer die nach den Nebenwirkungen, ob das stimmt, dass Menschen durch die Impfungen gestorben sind", sagt er. Wenn die Menschen nach der Informationsveranstaltung Aksakal fragen, wann sie sich denn impfen lassen können, klappt er einfach seinen Laptop auf und fragt: "Wann hätten Sie denn gerne einen Termin? Soll ich ihn am Mittwoch, Donnerstag oder Freitag buchen?"
Impfstatistik als Motivationsspritze
Viele der neuen Impfwilligen landen dann früher oder später bei Leonie Schlee und Arne Saak, den Leitern des Bremer Impfzentrums. Der Erfolg ruht auf vielen Schultern, heißt es. Und tatsächlich gibt es in Bremen erstaunlich viele Menschen, die Tag für Tag dafür schuften, dass das Land mit Abstand die Impf-Statistik anführt.
"In den Hochzeiten sind wir hier um 23 Uhr abends raus und standen morgens um 8 Uhr wieder auf der Matte. Aber dann schaut man morgens auf die Impfstatistik und sieht, Bremen ist immer noch auf Platz 1", sagt Schlee. 5500 Impfungen am Tag war der Rekordwert im Mai, das kleinste Bundesland hatte auf dem Messegelände eines der größten Impfzentren Deutschlands mit 96 Impfkabinen aus dem Boden gestampft. Ende September lag der Schnitt bei 1000 Impfungen täglich.
Im Wartebereich sitzen die Pflegerin, die sich ihre dritte Booster-Impfung abholt, die Frau aus der Veranstaltungsbranche, die nicht vom gesellschaftlichen Leben ausgeschlossen werden will und der Mann aus Ghana, der erzählt, in seiner Community würden die Menschen glauben, durch eine Impfung zu sterben.
Impfungen sogar für Seeleute
Das Impfzentrum koordiniert sogar Impftermine für Seeleute, Hunderte Matrosen haben sich in einem mobilen Truck am Hafen gegen das Coronavirus spritzen lassen. "Die haben hier vor Freunde geweint, weil sie ja oft aus Ländern kommen, wo es gar nicht absehbar ist, wann sie eine Impfung bekommen können", erzählt Schlee.
Am 22. Oktober wird das Impfzentrum schließen, nur die Trucks werden dann noch für Impfaktionen in den Stadtvierteln unterwegs sein. Schlee und Saak sehen es mit einem lachenden und einem weinenden Auge, der "Spirit" in dieser Zeit sei einmalig gewesen.
"Alle Hilfsorganisationen haben hier Tag und Nacht an einem Strang gezogen, gefühlt war mindestens halb Bremen dabei", sagt Saak, "wir haben teilweise stündlich Aktionen umgeschmissen, weil die Impfdosen nicht wie verabredet ankamen, und waren uns nicht sicher, ob das alles so funktioniert. Wir haben einfach gemacht, schnell und manchmal unkonventionell."
"Bremen kann Krise"
David Monte und Christian Seidenstücker würden den letzten Satz direkt so unterschreiben, der Personaldirektor der Atlantic-Hotel-Gruppe und der Geschäftsführer der Eventagentur "Joke" stehen vor dem Impfzentrum, welches ein Stück weit auch ihr Baby ist. Denn das Personal, das hier arbeitet, kommt zum Teil von Ihnen. "Bremen kann Krise", sagt Seidenstücker, "wir haben bewiesen, dass, wenn Politik, Wirtschaft und Verwaltung gemeinschaftlich nach Lösungen suchen, man wahnsinnig viel bewegen kann."
Warum nicht im Impfzentrum Mitarbeiter aus der Hotelbranche einsetzen, deren Stärke es ist, freundlich und zuvorkommend mit ihren Kunden umzugehen? Wieso nicht im Call-Center Personal beschäftigen, das es in Hotels und Eventagenturen gewohnt ist, mit den Menschen zu telefonieren und blitzschnell nach Lösungen zu suchen? Und weshalb nicht eine Software für die Online-Terminvergabe nutzen, die sich schon jahrelang für Konzerte bewährt hat?
Win-win-Situation durch Kooperation von Verwaltung und Wirtschaft
"Wir sind es ja gewohnt, Großveranstaltungen zu organisieren. Und wenn man mal ehrlich ist, ist es ja nichts anderes als eine große Veranstaltung, die über mehrere Monate läuft", sagt Seidenstücker. Im Dezember gab Gesundheitssenatorin Bernhard grünes Licht für die Kooperation, am Ende eine Win-Win-Situation für die Verwaltung und die Wirtschaft. Und natürlich die Bremer Pandemiebekämpfung.
Aus Montes Hotel-Gruppe arbeiteten zu Hochzeiten 59 Mitarbeiter im Bremer Impfzentrum, vom Koch bis zur Führungskraft, Seidenstücker entsandte stadtbekannte Bremer DJs und Schauspieler. "Wir nennen die Leute Pioniere der ersten Stunde, die den Job angetreten haben aus dem Idealismus zu helfen, aber natürlich auch aus einer Frustration durch die Corona-Krise", sagt Monte, "wir haben unsere Leute entsendet und konnten so die Kurzarbeit komplett auf Null herunterschrauben. Am Ende sind wir Teil des Bremer Puzzles, wo ganz viele Menschen aus den verschiedensten Organisationen mitgewirkt haben."
Dieser Artikel vom 24.09.2021 wurde am 13.10.2021 aktualisiert.