Brexit: Zäh wie die Fliegen im Klebstoff
28. August 2017Noch am Freitag war nicht klar, ob die britischen Unterhändler bereit wären, ihr traditionelles langes August-Wochenende für den Neustart der Brexit-Gespräche in Brüssel nach der Sommerpause zu opfern. Am späten Montagnachmittag kamen sie dann doch. Offensichtlich empfinden sie bislang weder Zeitdruck, noch sehen sie die Dringlichkeit dieser Gespräche so, wie EU-Vertreter sie beschwören.
Unterhändler in Sorge
"Ich bin in Sorge, denn die Zeit verstreicht", sagt EU-Unterhändler Michel Barnier bei der Wiederaufnahme der Gespräche. Er habe die vorgelegten britischen Positionspapiere mit Interesse gelesen, aber man brauche die Standpunkte der britischen Seite zu allen Aspekten der Trennung. Was bisher fehlt, ist etwa eine Stellungnahme zur Brexit-Schlussrechnung. Stattdessen gibt es Ideen zur Zollunion, über die derzeit noch gar nicht gesprochen wird.
"Wir müssen anfangen, ernsthaft zu verhandeln", mahnt Barnier. Je schneller man die Mehrdeutigkeit durch Klarheit ersetzen könne, desto besser die Chance für Fortschritt, sagt der Franzose und spielt damit auf ein Zitat des britischen Brexit-Ministers David Davis an, der "konstruktive Mehrdeutigkeit" zur Strategie erklärt hatte. Einmal mehr betonte der EU-Verhandlungsführer auch, die 27 verbleibenden EU-Staaten seien vereint in ihrer Haltung, dass zuerst über die Scheidungsmodalitäten und erst dann über das künftige Verhältnis gesprochen wird. Dies ist eine erneute Absage an die britischen Versuche, Trennung und Zukunft gemeinsam in einem Paket zu verhandeln.
Davis' Eröffnungserklärung fiel kurz aus: Beide Seiten bräuchten Phantasie und Flexibilität, appelliert er an die Europäer. Jetzt müsse man die Ärmel aufkrempeln und Fortschritte machen. Das wird wohl davon abhängen, ob er konkrete Vorschläge im Gepäck hat, über die verhandelt werden kann. Bisher verliefen die Gespräche dermaßen schleppend, das sie an die Bewegungen von Fliegen in Klebstoff erinnern.
Magisches Denken
Auch der Brexit-Beauftragte des Europaparlaments, der Liberale Guy Verhofstadt, mahnt inzwischen schon routinemäßig, man brauche raschere Fortschritte, und die Briten müssten endlich konkrete Vorschläge machen. Verhofstadt betonte einmal mehr, es werde kein Rosinenpicken geben. Aber genau das scheint die britische Seite in ihren Positionspapieren aus der Sommerpause zu betreiben. So wünscht sie sich zum Beispiel eine künftige Zollunion zwischen der EU und Großbritannien mit „reibungslosem" Grenzverkehr und keine Kontrollen an der künftigen EU-Außengrenze zwischen der Republik Irland und Nordirland, das Teil des Vereinigten Königreichs ist. Dafür müsse man technische Lösungen finden, heißt es in den britischen Vorschlägen luftig. EU-Beamte sprechen von "magischem Denken" bei den Briten.
Der sozialdemokratische Abgeordnete im EU-Parlament Jo Leinen kritisiert das Chaos in London. Es würden unausgereifte Positionspapiere veröffentlicht, die an den ernsthaften Fragen des Ausstiegs aus der EU vorbeizielten. Das Spiel mit der "konstruktiven Mehrdeutigkeit" à la Davis müsse ein Ende haben. Unter anderem dürfe sich Großbritannien nicht länger um die Anerkennung der Schlussrechnung drücken. Der Europaparlamentarier sieht bereits einen "Big Bang zum Austrittsdatum im März 2019 mit einem großen Schaden für beide Seiten" heraufziehen.
Einen ähnlichen "Super-Gau" sagt der Grünen-Finanzpolitiker Sven Giegold voraus: Großbritannien könne sich nicht um seine finanziellen Verpflichtungen aus der sogenannten Exit-Rechnung herumdrücken und stattdessen versuchen, über ein künftiges Handelsabkommen zu sprechen. Die EU sei nicht bereit, die Gespräche über die Scheidung und das künftige Verhältnis zusammenzulegen.
Strategie oder Chaos?
Die Meinungen gehen auseinander darüber, ob hinter der britischen Verhandlungsführung nun eine schlaue Strategie steckt, um die Ziele der EU zu unterminieren, oder ob sich darin lediglich das Chaos in der britischen Regierung wiederspiegelt. In London ist die Machtbalance zwischen Verfechtern eines harten und denen eines weichen Brexit nach wie vor umkämpft und die Position von Theresa May weiter unentschieden. Der Vorstoß der oppositionellen Labour-Party, die nach dem Brexit-Datum 29. März 2019 eine mehrjährige Übergangsregelung quasi zu EU-Mitgliedschafts-Konditionen anzustreben scheint, könnte die politische Lage in London noch unklarer werden lassen. Steht dahinter ein Exit vom Brexit - oder sollen die negativen Folgen des Austritts nur in die Zukunft aufgeschoben werden?
"Es ist kompliziert", sagt Ian Bond, Außenpolitik-Experte vom Center for European Reform. London versuche mit seinen Positionspapieren die EU in die nächste Verhandlungsphase über das künftige Verhältnis hinein zu treiben, ohne dass "ausreichender Fortschritt" bei den Scheidungsgesprächen gemacht wurde. Er hält es dabei für einen taktischen Fehler, die EU in diesem Prozess zu spalten. Das Königreich brauche mindestens eine qualifizierte Mehrheit für die Ausstiegs-Vereinbarung. Für das künftige Handelsabkommen brauche man sogar Einstimmigkeit. Also solle sich London überlegen, wie viel Gewinn es aus einer Strategie des "Teilens und Herrschens" ziehen könne, wenn es am Ende eine vereinte EU braucht.
Auch Bond hält den Vorwurf, die britische Seite betreibe nach wie vor "magisches Denken", für gerechtfertigt. "Wenn man den Binnenmarkt und die Zollunion verlässt, hat man danach in dieser Richtung mehr Probleme. Und wer dann von 'reibungslosem Grenzverkehr' spricht, hat so eine Grenze selbst noch nicht passiert". Das alles sei immer noch die alte Philosophie von Boris Johnson, der "den Kuchen essen und behalten" wolle.
Fahrplan gefährdet
Die EU-Unterhändler bereiten inzwischen die Regierungen der Mitgliedsländer darauf vor, dass es wohl in den nächsten sechs Wochen keinen "hinreichenden Fortschritt" mehr geben wird, um rechtzeitig die nächste Phase zu eröffnen. Beim Gipfeltreffen am 19. und 20. Oktober soll darüber entschieden werden. Kann das Datum nicht eingehalten werden, kommt der ganze Zeitplan ins Rutschen und der Zeitraum schrumpft weiter, in dem über das künftige Verhältnis mit seinen zahlreichen komplizierten politischen und juristischen Folgen gesprochen werden kann. Denn bis zum Oktober 2018 muss der Rahmen der Vereinbarungen stehen, damit sie rechtzeitig bis zum Brexit-Datum verabschiedet werden können. Und selbst eine längere Übergangsphase, auch um mehr Zeit für Verhandlungen zu gewinnen, dürfte Gegenstand schwieriger Verhandlungen werden.