Grenzüberwachung: Bricht Griechenland EU-Recht?
12. September 2022Am 15. August 2022 griffen griechische Behörden eine Gruppe von 38 Syrern und Palästinensern am Fluss Evros in der griechisch-türkischen Grenzregion auf. Die Männer, Frauen und Kinder wurden zur Registrierung in ein nahegelegenes Flüchtlingszentrum gebracht. Die Bergung der Menschen markierte das Ende einer wochenlangen Odyssee, die auch von internationalen Medien und Organisationen aufmerksam verfolgt wurde. Die Asylsuchenden waren auf einer kleinen, namenlosen Insel im Evros gestrandet, der natürlichen Grenze zwischen Griechenland und der Türkei.
Die Insel nahe des griechischen Dorfes Kissari befindet sich in einem militärischen Sperrgebiet. Normale Bürgerinnen und Bürger haben keinen Zutritt. Von dem Eiland aus hatten die Asylsuchenden per Handy ihre GPS-Standortdaten und Hilferufe an Hilfsorganisationen sowie Journalisten weitergeleitet.
Wochenlang hatten Menschen, die den Asylsuchenden helfen wollten, den GPS-Standort der Gruppe an die griechische Polizei weitergeleitet. Diese Daten wurden bestätigt durch die Übermittlung von Live-Standorten, Metadaten in Fotos und anderen Elementen, die Mitglieder der Gruppe verschickten. Die griechischen Behörden veröffentlichten Stellungnahmen in den Medien und teilten mit, man habe "fortlaufende Untersuchungen mit allen technischen Mitteln" unternommen. Trotzdem sei die Gruppe nicht auffindbar gewesen.
Griechische und internationale Medien hatten überdies berichtet, dass ein junges Mädchen aus Syrien, das mit der Gruppe gereist war, gestorben sei, während sie auf Hilfe wartete. Vertreter der Mitte-Rechts-Regierung von Premierminister Kyriakos Mitsotakis zweifelten den Tod des Mädchens an und behaupteten, Griechenland habe auf den Vorfall im Einklang mit europäischen und internationalen Gesetzen reagiert.
Hätten die Asylsuchenden früher gerettet werden können?
Keine zwei Kilometer entfernt vom GPS-Standort, den die Gruppe geteilt hatte, ragt aus Sonnenblumen- und Weizenfeldern ein Hügel hervor, direkt neben einer Straße, die parallel zum Fluss verläuft. Auf dem Hügel steht ein Turm, ausgestattet mit Radar, Wärmesensoren und Kameras. Dieser Turm scheint Teil eines kürzlich erweiterten Überwachungssystems zu sein, das die griechische Polizei hätte nutzen können, um die Asylsuchenden auf der nahegelegenen Insel zu lokalisieren.
In den vergangenen Jahren hat Griechenland Millionen in moderne Technologien zur Überwachung seiner Grenzen investiert - darunter Drohnen, Sensoren und Kameras. Das Ziel: Migranten beim irregulären Grenzübertritt zu sichten und aufzuhalten. Obwohl Teile dieses Automatischen Grenzüberwachungssystems (Automated Border Surveillance System ABSS) bereits seit Jahren existieren, stellte die griechische Regierung mit finanzieller Unterstützung der EU kürzlich 15 Millionen Euro zur Verfügung, um das System in der Evros-Region auszubauen.
Ergebnisse einer Recherche der DW in Zusammenarbeit mit unabhängigen Forscherinnen und Forschern, die ihr Material und Ergebnisse exklusiv zur Verfügung stellten, deuten stark darauf hin, dass eine zeitnahe Rettung der Menschen mit Hilfe des neu ausgebauten Grenzüberwachungssystems möglich gewesen wäre. Dies würde Stellungnahmen der Polizei bezüglich dieser und weiterer Rettungsaktionen in der Region widersprechen.
Wussten die griechischen Behörden, wo die Asylsuchenden waren?
"Es ist absurd, dass die griechische Polizei und die Regierung bei diesem und ähnlichen Vorfällen in der Vergangenheit behaupten, man habe die Menschen auf den Inseln nicht finden können", sagt Lena Karamanidou. Die Expertin für Asylpolitik ist am Evros aufgewachsen und kennt die Region genau. Karamanidou und hat über Monate die Standorte der Türme des Grenzüberwachungssystems erforscht.
Karamanidou, die zuvor an der Glasgow Caledonian University in Schottland tätig war und zurzeit selbständig forscht, hat an zahlreichen wichtigen journalistischen Veröffentlichungen mitgewirkt, die über mutmaßliche Menschenrechtsverletzungen am Evros berichteten.
Als Teil ihrer kartographischen Recherche verglich Karamanidou Satellitenbilder der Region, die zu verschiedenen Zeitpunkten aufgenommen wurden. Dabei arbeitete sie zusammen mit Phevos Simeonidis, einem unabhängigen Forscher, dessen Arbeit regelmäßig in Medienberichten zitiert wird, und Laszlo Kovacs, der ehrenamtlich bei Organisationen tätig ist, die Menschenrechtsverletzungen an Grenzen beobachten. Karamanidou hat die Existenz der Türme durch Feldarbeit in der Region bestätigt. Dabei nutzte sie als Referenz Fotos, die von griechischen Medien veröffentlicht wurden.
Es gibt Überwachungstürme nahe der Insel, auf der Asylsuchende festsaßen
Bei Feldforschungen in der Evros-Region von April bis Juli 2022 konnte die DW den Standort mehrerer Türme nachweisen. Außerdem analysierte die DW Satelliten-Bilder und sichtete umfangreiches Aktenmaterial des griechischen Staats sowie der Europäischen Union.
Die Berechnung des Abstandes zwischen einem der identifizierten Türme und der Insel unter Berücksichtigung der Höhenlagen sowie der Möglichkeiten der für die Überwachung genutzten Technologien, die in Polizeidokumenten aufgeführt werden, legt nahe, dass das System die Asylsuchenden hätte sichten müssen. Eine schnellere Rettung der Asylsuchenden wäre dann möglich gewesen.
Die DW bat Space Hellas S.A., ein griechisches Privatunternehmen, das mit dem Ausbau des Grenzüberwachungssystems beauftragt wurde, um Auskunft darüber, inwiefern das an die griechische Polizei gelieferte System mit den technischen Spezifikationen übereinstimmt, die in Polizeidokumenten und Medienberichten genannt werden. Unter Berufung auf Vertraulichkeit lehnte das Unternehmen eine Stellungnahme ab.
Vollständige Abschottung der Evros-Grenze
Im Herbst 2021 berichteten griechische Medien über die Fertigstellung des Grenzüberwachungssystems und feierten die vollständige Abschottung der Evros-Grenze. Das alles erfassende System könne sogar Bewegungen bis einige Kilometer weit auf türkischem Hoheitsgebiet erkennen, hieß es. Diese Angaben finden sich auch in den entsprechenden Polizeidokumenten.
Die DW gab der griechischen Polizei in den vergangenen zwei Wochen wiederholt die Möglichkeit, sich zu den Ergebnissen der Recherche zu äußern. Ein Sprecher der Polizei verwies auf eine Pressemitteilung, ohne konkret Stellung zu nehmen.
Überwachung rund um die Uhr
Aus Dokumenten der griechischen Polizei geht hervor, dass das erweiterte System den griechischen Behörden die Möglichkeit gibt, "Informationen in Echtzeit" zu erhalten - und das "mit großer Genauigkeit" hinsichtlich der "Bedingungen im Gelände entlang der gesamten Flussgrenze unseres Landes mit der Türkei".
Daten der Türme, darunter auch Videostreams und Radaraufnahmen, werden auf Monitore in lokale und regionale Überwachungszentren übertragen. Die dortigen Mitarbeiter sichten diese rund um die Uhr. Die Informationen werden dann in das nationale Koordinationszentrum in Athen übertragen, das Teil des Europäischen Grenzüberwachungssystems (EUROSUR) ist. Dabei handelt es sich um ein EU-Projekt, mit dem der Informationsaustausch zwischen den entsprechenden Grenzbehörden und der europäischen Grenzschutzagentur Frontex vereinfacht werden soll.
Laut offiziellen Dokumenten ist das Ziel der Überwachungsinfrastruktur, zu der auch das Grenzüberwachungssystem am Evros gehört, "illegalen Grenzübertritten [nach Griechenland] vorzubeugen und diese zu bekämpfen". Dabei solle "der Schutz und die Rettung von Migranten" sichergestellt werden.
Keine Überwachungsdaten zu den Asylsuchenden?
Bei einer Sitzung des griechischen Parlaments am 30. August 2022 deutete Zivilschutzminister Takis Theodorikakos an, das Überwachungssystem sei bei der Suche und der Rettungsaktion der Asylsuchenden zum Einsatz gekommen. Dann sagte er, aus den Daten des elektronischen Überwachungssystems sei nicht hervorgegangen, dass sich Menschen auf der Insel befunden hätten. Weitere Details teilte er nicht mit. Nachfragen der DW per E-Mail dazu beantwortete sein Büro nicht.
In derselben Parlamentssitzung erklärte Theodorikakos, das System sei erfolgreich eingesetzt worden. Allein im August 2022 seien 36.000 Menschen daran gehindert worden, die Evros-Grenze nach Griechenland zu überqueren.
Ministerium: Griechenland hat humanitäre Pflicht erfüllt
Das griechische Migrationsministerium leitete Fragen der DW zum Grenzüberwachungssystem an die griechische Polizei weiter. "Es ist offensichtlich, dass Griechenland seine humanitären Pflichten erfüllt sowie eine medizinische Versorgung und die Möglichkeit zur Beantragung von politischem Asyl ermöglicht hat, nachdem die 38 Migranten auf griechischem Boden waren", so das Ministerium in einer E-Mail an die DW.
Frontex ohne direkten Zugang zum Überwachungssystem
Auf DW-Fragen zur Such- und Rettungsaktion sowie des Grenzüberwachungssystems antwortete Frontex in einer E-Mail: "Wir haben den griechischen Behörden unsere Hilfe angeboten, aber es wurde uns versichert, die Situation sei unter Kontrolle." Frontex befindet sich derzeit in einer tiefen Krise. Medien hatten der Agentur vorgeworfen, von illegalen Pushbacks durch griechische Behörden gewusst und einige derartige Vorfälle sogar über eigene Überwachungssysteme beobachtet zu haben.
"Das Grenzüberwachungssystem am Evros wird von der griechischen Polizei betrieben, und Frontex hat keinen direkten Zugang," schrieb ein Sprecher von Frontex der DW. Er fügte hinzu, dass die Agentur nur auf der Grundlage von Beobachtungen des nationalen Koordinierungszentrums in Athen, nicht aber der lokalen und regionalen Zentren in der Region Evros zur Unterstützung der örtlichen Behörden eingesetzt würde.
EU-Kommission bedauert Todesfälle
Die DW hat sich aufgrund der Ergebnisse dieser Recherche auch mit der Europäischen Kommission in Verbindung gesetzt. "Die EU-Kommission bedauert jeden Todesfall und wir erinnern an die fundamentale Wichtigkeit, alle Schritte zu ergreifen, um Tragödien wie die auf der Insel im Evros zu verhindern", teilte ein EU-Kommissionssprecher der Generaldirektion Migration und Inneres mit.
Auf die Frage, wie die Kommission die DW-Recherchen kommentiere, denen zufolge das Grenzüberwachungssystem möglicherweise eine schnellere Rettung von Flüchtlingen ermöglicht hätte, antwortete die Behörde: "Wir begrüßen die Bemühungen der griechischen Behörden, die 38 Personen ausfindig zu machen und Hilfe zu leisten, indem man sie in eine vorübergehenden Unterkunft brachte. Wir sind mit den griechischen Behörden in Kontakt, um die Notwendigkeit deutlich zu machen, alles dafür zu tun, angemessenen Lösungen in diesem Fall zu finden."
Mitgliedsstaaten müssen EU-Prinzipien respektieren
75 Prozent des Ausbaus der Grenzüberwachungsanlage am Evros wurde aus dem EU-Fonds für innere Sicherheit finanziert. Laut EU-Angaben muss jede Aktivität, die über EU-Gelder finanziert wird, in vollem Einklang mit internationalem Recht und der EU-Charta für die Grundrechte umgesetzt werden.
"In Fällen von Nichteinhaltung, kann die EU-Kommission Forderungen zur Kostenerstattung, die in Verbindung mit der entsprechenden Aktivität gestellt werden, zurückweisen", so ein EU-Sprecher zur DW. Es sei die Pflicht der einzelnen Mitgliedsstaaten, sicherzustellen, dass alle Prinzipien befolgt werden und Untersuchungen durchzuführen, um Vermutungen über Nichteinhaltungen nachzugehen.
Überwachung am Evros
"Die Evros-Region ist eine der risikoreichsten, am wenigsten kontrollierten Testgebiete für Grenztechnologien. Von Schallkanonen über Luftüberwachung bis hin zu elektronischen Hochsicherheitszäunen: Diese Technologien verschärfen die ohnehin schon gewaltsame Grenze zwischen der Türkei und Griechenland", sagt Petra Molnar, stellvertretende Direktorin des Refugee Law Lab an der kanadischen York-Universität, wo der Einfluss von Grenztechnologien auf Flüchtende untersucht wird.
Die Verschärfung von Überwachungs- und Sicherheitsmaßnahmen am Evros haben für Griechenland und die Europäische Union eine vorrangige Stellung eingenommen, seit im März 2020 tausende Menschen an den Evros kamen, um in Griechenland Asyl zu beantragen. Der türkische Präsident Recep Tayyip Erdogan hatte Flüchtende, die in der Türkei Asyl suchten, offenbar dazu ermutigt.
2020 beschuldigte Griechenland das Nachbarland, diese Situation mutwillig herbeigeführt zu haben, um Druck auf die EU auszuüben. Bei einem Besuch am Evros dankte EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen Griechenland dafür, dass es "unser europäischer Schutzschild" sei.
Prekäre Situation für Asylsuchende
Zeitgleich zu den geschilderten Vorgängen am Evros steigen die Spannungen zwischen Griechenland und der Türkei. Zudem berichten Menschenrechtsorganisationen und Journalisten von immer prekäreren Verhältnissen für Asylsuchende in der Türkei.
Athen und Ankara bezichtigen sich gegenseitig, auf dem Rücken von Flüchtlingen politische Spiele auszutragen. Menschenrechtsorganisationen und internationale Medien berichten seit Jahren von systematischen Pushbacks, bei denen Menschen nach einem irregulären Grenzübertritt von der Türkei nach Griechenland das Recht verwehrt wird, in Europa Asyl zu beantragen. Griechische Behörden beschuldigen die türkische Seite, Asylbewerber gewaltsam an die Grenze zu bringen. Angehörige der Gruppe der 38 Asylsuchenden, die auf der Evros-Insel gestrandet war, berichten, man habe sie mehrmals von einem Land ins andere gebracht.
Griechenland zur Hilfe verpflichtet
Nachdem die griechischen Behörden zunächst gegenüber der DW behauptet hatten, die Gruppe nicht lokalisieren zu können, hieß es später, die Asylsuchenden hätten sich auf türkischem Hoheitsgebiet befunden und man hätte die türkischen Behörden informiert. Tatsächlich waren die Menschen bereits seit Juli 2022 auf der Insel. Anwälte reichten ein Gesuch beim Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte ein. Dieser verpflichtete die griechischen Behörden per einstweiliger Verfügung dazu, die Migranten zu retten und ihnen Zugang zum griechischen Asylsystem zu gewähren. Griechenland entsprach dieser Anweisung zunächst nicht - trotz zahlreicher Appelle von griechischen und internationalen Menschenrechtsorganisationen.
"Wenn ein Staat weiß, dass jemand in Gefahr ist und dazu in der Lage ist, zu helfen, dann ist der Staat dazu verpflichtet", sagt Omer Shatz, Dozent für internationales Recht an der Pariser Science Po und juristischer Vorstand der Nichtregierungsorganisation Front-LEX. "Selbst wenn die Gruppe auf türkischem Hoheitsgebiet war, die griechischen Behörden sie aber mit Kameras [oder anderen Technologien] beobachten konnte, sind griechische Behörden dazu verpflichtet, alle nötigen Schritte einzuleiten, um das Leben von Kinder zu retten und die Sicherheit der anderen Personen zu gewährleisten."
Asylsuchende berichten von illegalen Abschiebungen
Seit März 2022 hat der Europäische Gerichtshofe für Menschenrechte mindestens 17 einstweilige Verfügungen erlassen, mit denen Griechenland dazu aufgefordert wurde, Menschen in Notlagen am Evros zu retten. In weniger als der Hälfte der Fälle hatte die griechische Polizei entsprechend reagiert. In einigen Fällen behaupteten Asylbewerber sogar, griechische Polizisten hätten sie illegal in die Türkei abgeschoben.
Athen vermutet Türkei hinter "Invasionswelle"
"Am Evros wird bereits eine neue Invasionswelle geplant, hinter einer angeblich humanitären Maske," erklärte der griechische Premierminister Kyriakos Mitsotakis während einer Parlamentsdebatte im August 2022.
Migrationsminister Notis Mitarachi sagte im griechischen Fernsehen, die Türkei zwinge Asylsuchende gewaltsam an die griechischen Grenze - in der Erwartung, Menschenrechtsorganisationen, Journalisten und der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte würden einschreiten und Griechenland dazu zu zwingen, die Menschen zu retten. Dies, so Mitarachi, sei die neue Taktik, mit der die Türkei Asylsuchende als Waffe benutze, um eine "Hintertür" nach Europa zu schaffen und Griechenlands verbesserte Abwehrkapazitäten zu testen.
Als Reaktion, so Mitarachi, würde Griechenland die Sicherheit am Evros weiter erhöhen, indem der Grenzzaun erweitert und das Überwachungssystem erweitert würde. Dazu gehörte auch der Einsatz von Drohnen, Kameras und weiterer Ausrüstung.
Die Recherchen zu diesem Beitrag wurden mit Mitteln der Pulitzer-Stiftung ermöglicht.