BRICS - weder Papiertiger noch Schreckgespenst
30. Dezember 2023Es ist ein Rückschlag, aber die BRICS werden ihn verschmerzen: Argentinien wird dem Staatenbündnis Anfang Januar wohl doch nicht beitreten - die neue Regierung hat per Tweet abgesagt. Um fünf Staaten werden die BRICS trotzdem wachsen: Die Energie-Schwergewichte Saudi-Arabien, Vereinigte Arabische Emirate (VAE) und Iran sind dabei sowie Ägypten und Äthiopien. Mit der Erweiterung festigen die BRICS ihre Rolle als Stimme des globalen Südens und bringen mehr Gewicht in der internationalen Politik auf die Waagschale. Die Erweiterung findet unter dem Vorsitz Russlands statt. Und wenn im Oktober Präsident Wladimir Putin zum Gipfeltreffen im russischen Kasan den roten Teppich ausrollt, werden doppelt so viele Staats- und Regierungschefs auf dem Familienfoto sein wie bisher.
Die BRICS haben eine erstaunliche Karriere hingelegt, seit Banker von Goldman-Sachs 2001 das Akronym BRIC für einen Investmentfonds schufen, seit sich die Staatschefs von Brasilien, Russland, Indien und China 2009 erstmals trafen und seit Südafrika 2011 als erster afrikanischer Staat dazugestoßen ist. Diese Karriere ist umso erstaunlicher, als hier über ideologische Grenzen hinweg Demokratien wie Brasilien, Indien und Südafrika mit den Autokratien China und Russland pragmatisch zusammenarbeiten. Selbst tödliche Kämpfe zwischen indischen und chinesischen Truppen an der umstrittenen Grenze im Jahr 2020 haben die BRICS nicht gesprengt.
Unterschiede und Schnittmengen
Auch die Neuzugängen bringen beträchtliches Konfliktpotenzial mit: Ägypten und Äthiopien streiten sich um das Wasser des Nils; Saudi-Arabien und Iran kämpfen seit Jahrzehnten erbittert um die Vorherrschaft am Persischen Golf.
So unterschiedlich die BRICS und ihre Interessen auch sind: Johannes Plagemann, Politikwissenschaftler am Hamburger Think-Tank GIGA, hat einen Minimalkonsens ausgemacht: "Dass man sich eine internationale Weltordnung wünscht, die weniger vom Westen dominiert ist."
Das ist nicht gleichbedeutend mit Feindschaft gegenüber dem Westen. Die BRICS können Entscheidungen nur einstimmig treffen. Deshalb können weder China noch Russland noch künftig der Iran ihre jeweilige Position ohne weiteres durchsetzen. Und für die Mehrheit der BRICS-Staaten dürfte die Unterscheidung gelten, die Indiens Außenminister Subrahmanyam Jaishankar im September für sein Land getroffen hat: "Indien ist nicht-westlich, es ist nicht anti-westlich."
Balanceakt jenseits des Lagerdenkens
Eine BRICS-Mitgliedschaft, erklärt der Politikwissenschaftler Günther Maihold, biete nicht allein einen Statusgewinn in der internationalen Politik. Sie biete auch die Chance, sich dem Lagerdenken in der wachsenden geostrategischen Konkurrenz zwischen China und Russland auf der einen Seite und dem Westen auf der anderen zu entziehen. "Mit einer BRICS-Mitgliedschaft wird deutlich, dass man sich nicht in diese Lagerlogik hineinbegeben und stattdessen eine unabhängige Haltung wahrnehmen will", sagt Maihold, der an der Freien Universität Berlin unterrichtet.
Es ist ein Signal dieser Unabhängigkeit, dass Wladimir Putin Anfang Dezember trotz des russischen Überfalls der Ukraine in den künftigen BRICS-Staaten Saudi-Arabien und den VAE mit allem Pomp empfangen wurde – trotz internationalen Haftbefehls. In Abu Dhabi beließen es die Gastgeber nicht dabei, die Fahrzeugkolonne des Kreml-Chefs über mit russischen Fahnen beflaggte Boulevards rollen zu lassen. Kampfjets pinselten die Farben der russischen Flagge an den Wüstenhimmel. Bei so viel Gastfreundschaft gegenüber Putin könnte man fast vergessen, dass die VAE zugleich als US-Verbündeter gelten und die USA in dem Land gleich drei Militärstützpunkte unterhalten.
Russland profitiert vom BRICS-Vorsitz
Der BRICS-Vorsitz und die Ausrichtung des dazugehörenden Gipfels 2024 biete für Russland gleich mehrere Vorteile, analysiert GIGA-Experte Plagemann. Erstens werde innenpolitisch demonstriert, dass Russland keineswegs so isoliert sei, wie der Westen das anstrebe. "Und dann geht es natürlich in der Substanz für Russland auch darum, am Westen vorbei wirtschaften zu können, Sanktionen effektiv umgehen zu können, die eigenen Rohstoffe profitabel verkaufen zu können."
Schon jetzt halten sich selbst die Verbündeten des Westens innerhalb der BRICS-Staaten kaum an die westlichen Sanktionen gegen Russland. Zum Teil werden sie sogar als Warnsignal gesehen: Die Strafmaßnahmen gegen Russland und den Iran, das Einfrieren von Devisenreserven, der Ausschluss aus dem internationalen Zahlungssystem Swift haben Bestrebungen befeuert, nach Alternativen zum US-dominierten Finanzsystem zu suchen - für den Fall der Fälle. Eine echte Alternative aufzubauen ist schwierig und braucht Zeit. Aber die VAE zum Beispiel lassen sich Lieferungen von Gas und Öl nach Indien und China bereits mit lokalen Währungen statt mit US-Dollar bezahlen.
Die BRICS leisten sich noch nicht einmal ein eigenes Sekretariat. Aber sie verfügen im Finanzbereich über eine eigene Institution: die New Development Bank. Mit der Aufnahme der zahlungskräftigen Ölmonarchien Saudi-Arabien und VAE könnte die Bank ihr Kapital aufstocken. Der Berliner Politik-Professor Maihold erklärt, damit stünden alternative Finanzquellen für nationale Entwicklungsprojekte, aber auch in Situationen öffentlicher Verschuldung zur Verfügung, "die nicht mit den Bedingungen verbunden sind, die der Weltbank oder dem Weltwährungsfonds typischerweise zugeschrieben werden".
Werte? Interessen!
Plagemann erwartet durch den Aufstieg des globalen Südens und den relativen Machtverlust des Westens weitere Veränderungen: "In vielen Bereichen der internationalen Politik wird die Welt transaktionaler werden". Der Autor des gerade veröffentlichten Buchs "Wir sind nicht alle – Der Globale Süden und die Ignoranz des Westens" erklärt er, was das konkret bedeutet: "Dass man weniger Wert legt auf ideologische Übereinstimmung, Demokratieförderung, Menschenrechte und so weiter, sondern dass sich alle Beteiligten mehr darauf konzentrieren, ihre eigenen Kerninteressen umsetzen zu wollen."
"Das, was die Bundesaußenministerin weltweit vorträgt, nämlich die Wertepartnerschaften als Basis der Zusammenarbeit, wird nicht als Grundlage gesehen", bekräftigt Günther Maihold. "Was wir als regelbasierte Ordnung zu verkaufen versuchen ist eben eine, wo die BRICS-Mitglieder sagen: 'Wir haben die Regeln nicht gemacht. Und es gibt keinen Grund, weshalb wir uns diesem Regelwerk anschließen oder unterwerfen sollten'." Zumal für die weniger mächtigen Länder die "regelbasierte Ordnung immer wenig mehr als Heuchelei im globalen Maßstab gewesen" sei, wie kürzlich Julian Barnes-Dacey und Jeremy Shapiro selbstkritisch im US-Magazin "Foreign Policy" festhielten.
Miteinander reden
Plagemann plädiert für einen unaufgeregten Umgang mit den BRICS. Er rät, das Staatenbündnis als Kooperationspartner zu sehen – da, wo es sich inhaltlich anbietet. "Wenn die großen internationalen Institutionen wie etwa die Vereinten Nationen immer weniger handlungsfähig sind, müssen die verbliebenen Gruppen, Grüppchen und Institutionen zumindest potenziell kooperieren können. Es bringt nichts, da eine Gegnerschaft aufzubauen", so das Fazit des Hamburgers.
Günther Maihold hat kürzlich in einem Paper für die einflussreiche Berliner Denkfabrik Stiftung Wissenschaft und Politik, SWP, einen konkreten Vorschlag gemacht, wie der Westen und die BRICS ins Gespräch kommen könnten: Durch gemeinsame Dialogforen der Chefunterhändler von G7 und der BRICS. Die müssten noch nicht einmal öffentlich sein und könnten sich mit Politikfeldern befassen, die weniger betroffen sind von der geopolitischen Konkurrenz: Umwelt- und Klimafragen schweben Maihold da vor oder globale Gesundheitspolitik.