Der britische Ökostrom und der Brexit
6. Februar 201875 Meter lang und 25 Tonnen schwer ist jedes der Rotorblätter für Windkraftanlagen, wenn es aus der Fertigungshalle der Siemens Gamesa-Fabrik im Hafen der Stadt Hull kommt. Bei jedem Windrad sind drei dieser Fiberglas-Ungetüme im Einsatz. Sie sollen vor der britischen Küste Strom für den europäischen Energiemix erzeugen.
"Vier Elefanten, das ist unsere Vergleichsgröße", sagt Alison Maxwell, die Kommunikationschefin der Siemens-Fabrik in Nordengland. Das Geschäft mit den Riesenschaufeln geht nicht schlecht. Die 182 Millionen Euro teure Fabrik hat seit ihrer Eröffnung Ende 2016 der ansonsten wirtschaftlich eher schwach aufgestellten Stadt einen Aufschwung beschert.
Großbritannien hat sich in den letzten Jahren zum Weltmeister der Offshore-Windanlagen gemausert. Laut "Global Wind Energy Council" (GWEC) hat derzeit kein Land der Welt mehr Windkraftprojekte zu verbuchen. Und das zu einer Zeit, wo viele Kommentatoren eher harte Zeiten für das Vereinigte Königreich erwarten, wenn der Brexit kommt.
Dabei ist es Großbritannien gelungen, die Kosten für Windenergie im Jahr 2017 drastisch zu senken. Sie liegen sogar unter denen von Atomstrom. Das Land hat außerdem angekündigt, die Kapazität seiner Offshore-Anlagen von 6 Gigawatt (GW) auf 30 GW im Jahr 2030 zu erhöhen. Die britische Regierung selbst hat sich dazu verpflichtet, jährlich mindestens ein zusätzliches Gigawatt Offshore-Windenergie zu erzeugen.
Ein unbehagliches Gefühl bleibt trotzdem. Was passiert mit dem Energiesektor, wenn das Land die EU verlässt und wie geht es mit EU-Binnenmarkt und Zollunion weiter?
"Natürlich sehen wir mit einiger Sorge, dass das Vereinigte Königreich außerhalb des Binnenmarktes liegt und dass möglicherweise Zölle auf den Handel mit produzierten Gütern zwischen Großbritannien und der EU 27 erhoben werden", sagt Giles Dickson, Geschäftsführer vom Interessenverband "Wind Europe".
"Zur Zeit ist der Handel zwischen dem Vereinigten Königreich und den EU 27 frei. Wir würden selbstverständlich befürworten, dass das so bleibt."
Wind im Wandel
Fotografien im Empfangsbereich des Siemens-Werks in Hull bilden die Geschichte des Alexandra Docks ab, an dem sich die Fertigungsanlage befindet. Sie spiegeln gleichzeitig die Geschichte der Stadt.
Bis in die 1970er Jahre war Hull der drittgrößte Hafen Großbritanniens. Zugladungen mit Kohle wurden an insgesamt neun Docks auf gewaltige Schiffe verladen. Die artenreiche Nordsee ließ außerdem die fischverarbeitende Industrie der Stadt blühen.
Dann kamen die sogenannten "Kabeljau-Kriege", in denen dem Land der Zugang zu fischreichen Gebieten verloren ging. Die Kohleindustrie begann zu schwächeln, zudem automatisierte sich die Industrie immer mehr. Hull rutschte ab in eine Spirale der Bedeutungslosigkeit. Die gipfelte darin, dass die Stadt 2003 in einer landesweiten Abstimmung zur lebensfeindlichsten Stadt Großbritanniens gewählt wurde. Bis 2016 änderte sich daran wenig. Hull landete als "am wenigsten wohlhabende" britische Stadt auf dem globalen Wohlstandsindex des Thinktanks "Legatum Institut".
Dass in der Stadt doch wieder Optimismus keimt, liegt an etlichen neuen Jobs, die in verschiedenen Projekten im Bereich grüner Energien geschaffen wurden. Investitionen begannen zu fließen, außerdem wurde Hull 2017 zur britischen Kulturhauptstadt ernannt.
Beim diesjährigen Weltwirtschaftsforum in Davos nutzte die britische Premierministerin Theresa May ihre Rede auch dazu, die Investition von Siemens herauszustellen. Der Vorsitzende des Stadtrates von Hull nannte das vergangene Jahr einen "Katalysator für den Wandel".
Und so arbeiten am Siemens-Standort Gamesa inzwischen 1000 Mitarbeiter. Komponenten für die Produktion kommen, anders als früher, nicht mehr aus aller Welt, sondern werden in der Region hergestellt. Aktuell ist die Anlage für die Fertigung von 351 Rotorblättern ausgelegt, die für zwei große Windprojekte - Hornsea 1 und 2 - an der Küste von Yorkshire gedacht sind.
Der Bau dieser Offshore-Windparks wird rund 2000 Arbeitsplätze in die Region bringen, heißt es von Seiten des Bauherren, der dänischen Firma "Orsted". Einige Jobs gibt es nur während der Bauzeit. Hornsea 1 und 2 liegen knapp über 100 Kilometer vor der Küste Yorkshires, sie werden die größten Offshore-Windparks der Welt sein und nach 2020 beziehungsweise 2022 genug Strom erzeugen, um mehr als zwei Millionen Haushalte zu versorgen.
Und nach dem Brexit?
Trotzdem das Geld für die Rotorblatt-Fabrik aus Deutschland kommt und die Windparks von einer dänischen Firma gebaut werden, stimmten etwa 70 Prozent der Wahlberechtigten in Hull für einen Austritt aus der Europäischen Union. Umweltschützer weisen darauf hin, dass der Boom in der Offshore-Windenergie auf Kosten der Regierungsunterstützung für andere erneuerbare Energien geht, also Windkraftanlagen an Land oder Solarenergie. Hier wurden immer wieder Gelder gestrichen. Sie weisen außerdem auf die Unsicherheiten hin, ob Großbritannien nach einem Brexit weiterhin mit dem länderübergreifenden EU-Energiemarkt arbeiten wird oder nicht.
"Der Brexit hat seine eigenen, speziellen Herausforderungen und offenen Fragen bezogen auf die Zugangsmöglichkeiten des Vereinigten Königreichs zur Europäischen Investitionsbank und den Energiemarkt", sagt Alasdair Cameron, ein Experte für erneuerbare Energien bei der Umweltvereinigung "Friends of the Earth". "Aber auf lange Sicht scheinen die Kräfte, die den Wechsel zu erneuerbaren Energien vorantreiben, unaufhaltsam."
"Wind Europe"-Geschäftsführer Giles Dickson und auch andere Experten erwarten, dass Großbritannien auf dem Papier immer noch ein sehr starker Offshore-Markt ist, auch wegen der Aussage der Regierung, noch mehr Offshore-Windkraft zu unterstützen. Das könnte auch ein Signal für den Europäischen Markt sein.
Dieses "auf dem Papier" ist vielleicht so etwas wie eine Kernaussage: Bis die mühsamen Gespräche zwischen EU und Großbritannien zu einem Ergebnis kommen, sind konkrete Auswirkungen des Brexit auf Warenverkehr, Wirtschaft und Lebensunterhalt der Menschen immer noch rein spekulativ.
Bei "Siemens Gamesa" kommt ein Großteil des verwendeten Materials aus der näheren Umgebung. Das gleiche gilt für die Arbeitskräfte. Alison Maxwell sagt aber, dass das Unternehmen solange in unsicherem Fahrwasser unterwegs ist, bis die Scheidung rechtskräftig ist. Aber das gilt für viele andere auch.
"Unsere Zölle sind ziemlich stabil", sagte Maxwell. "Aber in Zukunft hoffen wir, unser Produkt und unsere Expertise zu exportieren und so Zugang zu Europa zu haben... Ich denke, wir müssen abwarten."