Bundesliga: "Rollt der Ball bedingungslos?"
15. Mai 2020In den vergangenen Wochen war gut zu beobachten, wie sich der Fußballsport in Deutschland in einer Sonderrolle sieht: Während die überwiegende Mehrheit der Bevölkerung sich an die angeordneten Sicherheitsmaßnahmen hält, in der Öffentlichkeit Mundschutz trägt und untereinander Mindestabstände einhält, soll das für Fußballer nicht gelten.
Viele Beobachter sind sich einig, dass es psychologisch und epidemiologisch fragwürdig ist, schon wieder Großveranstaltungen abzuhalten. Auch wenn bei einem Spiel keine Zuschauer zugelassen sind, werden immer noch bis zu 300 Personen anwesend sein: Reporter, Kameraleute, Ärzte und Physiotherapeuten.
Jedenfalls sehr kompliziert
Der ehemalige Stürmer Heiko Herrlich, jetzt Trainer des Erstligisten FC Augsburg, gehört selbst zu einer sogenannten Risikogruppe, seit er vor 20 Jahren an einem Hirntumor erkrankt war. Herrlich hat für sich eine Entscheidung getroffen. Er setze sich, war in der Saarbrücker Zeitung zu lesen, der erhöhten Infektionsgefahr aus, weil "ich mich auf die Aufgabe freue."
Dass nun ausgerechnet dieser Trainer sich selbst ein Bein stellt, zeigt, wie kompliziert das Fußballerleben nach Coronaregeln ist. Herrlich hatte während der Hotel-Quarantäne seiner Mannschaft eingekauft und so gegen die Auflagen des DFL-Konzepts verstoßen. Der 48-Jährige erzählte in einer Video-Pressekonferenz, dass er das Hotel verlassen habe, um Zahnpasta und Hautcreme zu kaufen. Jetzt wird ausgerechnet er beim Spiel seiner Mannschaft gegen den VfL Wolfsburg nicht auf der Bank sitzen.
Wechselseitig abhängig
Auch wenn sich viele Sportler freuen, ihren Beruf wieder ausüben zu dürfen, entscheidend für die Wiederaufnahme des Spielbetriebes sind äußere Zwänge. Im Interview mit DW lenkt der Direktor des Hamburgischen Weltwirtschaftsinstitutes, Henning Vöpel, den Blick auf das geschäftliche Umfeld des Profifußballs: "Die Medienpartner werden sicherlich auch Druck gemacht haben, denn die Fußballrechte sind wesentlicher Teil ihres Geschäftsmodells."
Und Sportler und Medien seien nicht allein beim großen Spiel. "Es hängen sowohl an den Vereinen selbst als auch an den Medienpartnern viele Sponsoren dran, die bereits gezahlt haben, aber keine Gegenleistung erhalten und entsprechend ihr Engagement kündigen. Letztlich besteht der Fußball aus einem ganzen Kreislauf von wechselseitig abhängigen Leistungen und Zahlungen."
Dem "Geisterfußball" droht ein fettes Minus
Das Fußballfachmagazin Kicker hat zu Beginn dieser Woche ausgerechnet, wie viel Geld die Vereine der beiden höchsten deutschen Spielklassen verlieren, wenn ihre Mannschaften vor leeren Rängen spielen. Die Zuschauerzahlen der vorherigen Saison zu Grunde gelegt, verlören die achtzehn Zweitligavereine 22,029 Millionen Euro, die Vereine der ersten Liga müssten mit einem Minus von knapp 67 Millionen Euro rechnen.
Allerdings, räumte der Kicker ein, seien die tatsächlichen Verluste am Ende doch nicht ganz so hoch. Zum einen werden wohl "viele Fans" auf die anteilige Rückerstattung des Kaufpreises ihrer Dauerkarte verzichten. Anderseits könnte die Steuerschuld der Vereine etwas geringer ausfallen: "Bei der Rückgabe von Dauerkarten müssten die Klubs anteilig die mit deren Kauf geleistete Umsatzsteuer zurückfordern können".
Trotzdem, so Henning Vöpel, seien Geisterspiele finanziell "immer noch besser, als gar nicht zu spielen": Das gelte aber nur für die beiden oberen Ligen, bei denen die Übertragungsrechte der größte Posten auf der Einnahmeseite seien. "Für die Dritte Liga und abwärts fallen die Kosten von Geisterspielen natürlich stärker ins Gewicht, da ja die Ticketeinnahmen komplett fehlen, die für diese Vereine schon eine wesentliche Einnahmequelle sind."
Finanziell schlecht aufgestellt
Manche Vereine sollen Medienberichten zufolge schon kurz vor der Insolvenz gestanden haben. Für den Ökonomen Henning Vöpel ist es sehr bedenklich, dass Unternehmen mit Umsätzen im dreistelligen Millionenbereich nicht einmal genug Reserven für zwei bis drei Monate haben: "Es zeigt, dass die gesamte Branche sehr stark 'auf Kante' genäht ist."
Die meisten Vereine hätten bislang statt Rücklagen zu bilden in neue Spieler investiert und seien dabei "bis an die Grenzen und zum Teil darüber hinaus gegangen." Die aktuelle Krise könne jetzt die Gelegenheit bieten, "den Fußball finanziell stabiler aufzustellen. Das ist vor allem eine Aufgabe für die DFL, die ja die Bilanzierung und Lizenzierung vornimmt."
Negative Reputationseffekte
Spiele unter Ausschluss der Öffentlichkeit sind keine Werbung für den Volkssport Fußball, das hat das Geisterspiel in Mönchengladbach am 11. März gezeigt. Das sieht auch Henning Vöpel so: Bei Geisterspielen werde die "Erlebnisqualität für alle Beteiligten, vor allem aber die Zuschauer, stark reduziert."
Geisterspiele könnten mittelfristig dem Fußball sogar schaden. Es könnte zu "negativen Reputationseffekten" kommen, wenn Infektionsfälle aufträten, Spiele ausfallen müssten oder Vereine später vor Gericht zögen, um vermeintlich ungerechte sportliche Entscheidungen zu revidieren. Vöpel: "Das Risiko, unter diesen Bedingungen den Spielbetrieb wieder aufzunehmen, ist jedenfalls groß."
Trainer Heiko Herrlich sieht diese Gefahr ebenfalls: "Es wäre für den Fußball ein Eigentor, wenn die Einschaltquoten in den Keller gehen, weil den Spielen ohne Publikum etwas fehlt". Dem Fußballmagazin Kicker gegenüber zählte Herrlich einige Kriterien auf, an denen man das Niveau der Spiele ablesen kann: "Haben sie die gleiche Intensität wie sonst? Flacht das ab? Geht man Zweikämpfen aus dem Weg? Ist es bedingungslos?"
Romantik statt 50+1?
Wird sich der Fußball über die Pandemie hinaus verändern? Henning Vöpel sieht da zwei Möglichkeiten: Es könnte in eine Richtung gehen, "in der die Überkommerzialisierung an ein Ende gelangt und regionale Identifikationen wieder eine größere Rolle spielen."
Ein anderes, weniger romantisches Szenario ist für den Direktor des HWWI aber viel wahrscheinlicher, nämlich, dass "die Vereine noch viel stärker ihren eigenen Vorteil suchen. Zum Beispiel könnte die 50+1-Regel fallen, weil Vereine in Schwierigkeiten geraten und nach Eigenkapital suchen."
Das würde dazu führen, dass sich der Profifußball noch weiter isoliert: Der Fußball könnte sich gesellschaftlich in eine Richtung entwickeln, geschäftlich aber in eine andere, völlig gegensätzliche. "Das Spannungsfeld des Fußballs zwischen Verantwortung und Kommerzialisierung" nähme noch zu. Vöpel: "Es wäre wichtig für den Fußball, jetzt in und an der Krise zu lernen und zu verstehen, was ihn für die Menschen wertvoll macht."