Ceuta: Die erpressbare EU
21. Mai 2021Es sind markige Worte, die Margaritis Schinas in einem Interview im spanischen Radio wählt: Europa lasse sich von niemandem "einschüchtern" und werde "kein Opfer solcher Taktiken sein". Der Vizepräsident der EU-Kommission bezieht sich damit auf die Tausenden Migranten, die von Marokko aus in die spanische Exklave Ceuta schwammen - was in dieser großen Zahl nur möglich war, weil die marokkanischen Sicherheitskräfte sie passieren ließen, anders als in Abkommen mit Spanien und der EU festgehalten.
Alberto-Horst Neidhardt hält die Worte von EU-Kommissar Schinas für "traurige Ironie". Denn es sei die EU selbst, die - vor allem seit den großen Migrationsbewegungen 2015 - die Kontrolle der Außengrenzen der Union an andere Staaten ausgelagert habe, sagt der Analyst der Brüsseler Denkfabrik European Policy Centre (EPC).
Wenn diesen Staaten das Handeln der EU oder eines EU-Landes nicht passe, könnten sie sich revanchieren, indem sie die Grenzen nicht mehr kontrollierten - wie nun im Fall von Ceuta. "Die tragische menschliche Dimension dieses politischen Machtspiels ist, dass Migranten und Asylsuchende als Faustpfand herhalten müssen", so Neidhardt.
Blanca Garcés, Migrationsforscherin beim Barcelona Centre for International Affairs (CIDOB) bezeichnet die Ereignisse in Ceuta als "Warnung", um mehr Druck auf die spanische Regierung und die EU auszuüben. "Die Idee ist zu zeigen, was passieren könnte, wenn Marokko die Kontrolle der spanischen Grenze und damit auch die Außengrenze der EU stoppen würde", sagt Garcés.
Marokko galt bisher als Modellbeispiel
Es ist nichts Neues, dass Menschen aus Marokko und anderen Teilen Afrikas versuchen, nach Ceuta zu gelangen - oder in Spaniens zweite Exklave in Nordafrika: Melilla. Die beiden Städte sind Überbleibsel aus der spanischen Kolonialzeit und die einzige Landgrenze der EU zum afrikanischen Kontinent.
Eigentlich habe Marokko als Modellbeispiel gegolten, was die Zusammenarbeit im Bereich Migration angeht, sagt Alberto-Horst Neidhardt vom Brüsseler EPC. "Die Ereignisse der vergangenen Tage zeichnen aber ein sehr viel gemischteres Bild."
Dass sich dieses Mal so viele Migranten auf den Weg machten, hängt einerseits mit der katastrophalen wirtschaftlichen Lage in der an Ceuta angrenzenden Region zusammen. Der andere Grund ist ein diplomatischer Konflikt zwischen der spanischen und der marokkanischen Regierung. In dem Streit geht es um die Westsahara, eine ehemalige spanische Kolonie, die Marokko für sich beansprucht. Weil Spanien den Anführer der Unabhängigkeitsbewegung, Frente Polisario, medizinisch behandelt, warf der marokkanische Minister für Menschenrechte, Mustapha Ramid, Madrid in einem Facebook-Post vor, sich auf die Seite der Polisario-Front zu schlagen.
In der Westsahara-Frage habe sich die Haltung der EU nicht verändert, stellte diese Woche ein Sprecher der EU-Kommission klar. Demnach betrachtet die Europäische Union die Westsahara als Hoheitsgebiet ohne Selbstregierung und unterstützt den Prozess der Vereinten Nationen, welcher zu einem endgültigen Status führen soll. Diese EU-Position ist seit Jahren gleichbleibend - und wurde auch nicht durch die Entscheidung des früheren US-Präsidenten Donald Trump beeinflusst, den Anspruch Marokkos auf die Westsahara anzuerkennen.
Der marokkanischen Regierung dürfte es demnach kaum gelingen, die Haltung der EU zu verändern. Aber sie könne Migranten wieder und wieder als Faustpfand benutzen, sagt Blanca Garcés von CIDOB. "Das ist der Preis, den die EU bezahlt, weil sie ihre Grenzen in die Hände von Nachbarländern legt."
Garcés hält die Lage in Ceuta für vergleichbar mit der an der türkisch-griechischen Grenze Anfang 2020. Der Hauptunterschied sei, dass die Türkei Geflüchtete als politisches Druckmittel genutzt habe, Marokko nutze hauptsächlich die eigenen Staatsangehörigen.
Von hohen EU-Vertreterinnen und Vertretern war in den vergangenen Tagen zu hören, dass es Gespräche mit Rabat gebe. Der mit Außenpolitik beauftragte Spanier Josep Borrell sagte, er sei sicher, man finde Lösungen im Sinne der Zusammenarbeit. Seine Kollegin, EU-Kommissarin Ylva Johansson, zuständig für Migration, bezeichnete es als wichtigste Aufgabe, dass Marokko weitere irreguläre Ausreisen unterbinde.
Die EU ist abhängig von Marokko, wenn es um Migration geht
Eine Sprecherin der EU-Kommission verwies auf aktuell 346 Millionen Euro an EU-Geldern, die für verschiedene Projekte in Marokko bewilligt worden wären - unter anderem, um Menschenschmuggler zu bekämpfen und Migranten vor Ort zu helfen.
Dass die Europäische Union als Reaktionen auf Ceuta solche Zahlungen kürzt, ist äußerst unwahrscheinlich. "Wir müssen noch abwarten, ob die Ereignisse das gegenseitige Vertrauen beeinträchtigen", sagt Alberto-Horst Neidhardt vom Brüsseler European Policy Centre. "Es besteht allerdings auf beiden Seiten ein großes Interesse, eine für alle vorteilhafte Zusammenarbeit wiederherzustellen, was Migration angeht, aber auch andere Bereiche."
In der ganzen Debatte rund um Ceuta verweist die EU-Kommission immer gern auf ihren im Herbst 2020 vorgestellten Migrationspakt. Ein wichtiger Baustein des Vorschlags ist es, enger mit Nachbarländern zusammenzuarbeiten, um illegale Einreisen in die EU zu verhindern. Ceuta könnte also ein Vorbote sein, für das was noch kommen wird.