Chinesische Zahlenrätsel
12. August 2015Sie können unterhalb dieses Artikels einen Kommentar abgeben. Wir freuen uns auf Ihre Meinungsäußerung!
"Pure Fantasie" - selten war das Urteil eines westlichen Finanzexperten über die offiziellen chinesischen Statistiken so vernichtend wie das von Erik Britton. Als Beispiel nennt der Direktor des Londoner Analysehauses Fathom Consulting die Quartalszahlen zum chinesischen Wirtschaftswachstum: "Die Zahlen werden innerhalb einer unwahrscheinlich kurzen Zeitspanne nach dem Ablauf eines Quartals geliefert und dann nicht mehr revidiert - wie es sonst in allen anderen Ländern der Welt geschieht. Und dann sind sie immer unheimlich nah dran an den Prognosen der Behörden - eine Vorhersage-Bilanz, wie es sie in keiner anderen Volkswirtschaft und bei keinem anderen Prognose-Institut je gegeben hat."
Außerdem seien sie nicht plausibel, wenn man sie mit den Daten vergleicht, die von führenden chinesischen Funktionären wie Li Keqiang als aussagekräftiger angesehen werden. Er orientiere sich, so vertraute der heutige Premierminister einem US-Diplomaten 2007 an, an drei Kerndaten: dem Energieverbrauch, den Kreditvergaben und den Eisenbahnfrachten.
Ein Wirtschaftswachstum von rund sieben Prozent, wie von der Staatsspitze vorgegeben, und ein nahezu stagnierender Stromverbrauch passen da einfach nicht zusammen, meinen immer mehr Ökonomen. "Alles in allem haben die Zahlen viel mehr damit zu tun, was die Behörden gerne sehen möchten, als mit dem, was wirklich geschieht. Das ist eher Fantasie als Realität", sagt Erik Britton gegenüber der DW.
3,1 statt 7 Prozent Wachstum?
Ausgehend von Li Keqiangs Kerngrößen kommen die Analysten von Fathom Consulting in ihrem "China Momentum Index" auf ein Plus von aktuell 3,1 Prozent beim Bruttoinlandsprodukt (BIP). Für das Gesamtjahr 2015 erwarten sie laut Britton, dass Chinas Wirtschaft um 2,8 Prozent wächst und 2016 nur noch um ein Prozent zulegt.
Britton ist nicht der einzige, der an den offiziellen Zahlen zweifelt. Und je mehr die Konjunkturindikatoren in China nach unten weisen, umso weniger glauben viele Experten, dass sich das von der Führung in Peking offiziell ausgegebene Ziel eines Wirtschaftswachstums von sieben Prozent für das laufende Jahr noch halten lässt - selbst mit geschönten Zahlen.
Angst vor dem Platzen der "Triple Bubble"
Die Gefahren lauern nahezu überall: Neben dem überhitzten Immobilienmarkt und sinkenden Aktienkursen hat das Land mit einem gewaltigen Schuldenberg zu kämpfen. Geht es nach Andrew Garthwaite, dem globalen Chef-Analysten von Credit Suisse, dann haben sich im Schatten des chinesischen Wirtschaftsbooms drei bedrohliche Blasen entwickelt: "Unserer Meinung nach bilden die drittgrößte Kreditblase, die größte Investmentblase und die zweitgrößte Immobilienblase aller Zeiten das aktuell größte Risiko für die Weltwirtschaft."
Viel von dem, was in den vergangenen Jahren die chinesischen Wachstumszahlen angetrieben hat, wird jetzt zur Belastung: Stahlwerke, deren Stahl auf dem Weltmarkt nicht gebraucht wird. Oder leerstehende Apartmentkomplexe, die im Glauben an immer weiter steigende Immobilienpreise überall in China aus dem Boden gestampft wurden.
Credit Suisse-Analyst Andrew Garthwaite macht das ganze Ausmaß des chinesischen Baubooms mit einem so einfachen wie verblüffenden Vergleich greifbar: "China hat in den vergangenen drei Jahren mehr Zement verbraucht als die USA im gesamten 20. Jahrhundert."
Immobilienpreise wie in Central-London
Nicht nur die Zahlen für das chinesische Bruttoinlandsprodukt sind umstritten. Ebenso gibt es unterschiedliche Schätzungen über die Größe der tickenden Zeitbomben bei den Banken. "Unsere eigenen Berechnungen über faule Kredite im chinesischen Bankensektor liegen bei rund 20 Prozent des BIP – das ist ein vielfaches von dem, was offiziell geschätzt wird", sagt Erik Britton von Fathom Consulting.
Gefährlich wird die Situation dann, wenn die Immobilienpreise weiter nachgeben, meint Andrew Garthwaite von Credit Suisse. Denn stärker als in Aktien haben die Chinesen ihr Geld in Immobilien investiert. Im internationalen Vergleich seien manche chinesische Eigentumswohnungen höher bewertet als die in den besten Lagen von London, schreibt Garthwaite. "Falls die Immobilienpreise um 15 Prozent oder mehr fallen, gehen wir davon aus, dass es zu einer harten Landung der chinesischen Wirtschaft kommt und die Behörden kaum noch Möglichkeiten haben werden gegenzusteuern."
Auswirkungen auf die Weltwirtschaft
Als zweitgrößte Volkswirtschaft der Welt ist China für die globale Wirtschaft von großer Bedeutung. Das Reich der Mitte ist nicht nur Exporteur, sondern auch Ziel ausländscher Waren und Dienstleistungen.
Die Bedeutung der chinesischen Importe für die globale Wirtschaft könnte trotzdem geringer sein, als es die offiziellen Zahlen nahelegen. Nach den Daten der Welthandelsorganisation WTO und des Industrieländer-Clubs OECD sind nur 62 Prozent der Waren, die China importiert, für den Endverbrauch im Land bestimmt. Viele Komponenten, die nach China eingeführt werden, verlassen in Form von iPhones oder Computern das Land wieder.
Doch selbst wenn Chinas Wirtschaft nur noch um - echte - drei Prozent wachsen sollte, bieten die Analysten der Credit Suisse einen versöhnlichen Ausblick: Durch mehr Wachstum in den USA und Europa sowie weiterhin niedrige Rohstoffpreise könnte die globale Wirtschaft selbst dann noch um 2,6 Prozent wachsen.
Mitarbeit: Gabriel Domínguez