Chinas wirtschaftliches Versuchslabor
2. Oktober 2014
Wirtschaftlich ist Hongkong die Nummer Eins - und zwar weltweit. Das ist regelmäßig das Ergebnis des "Index of Economic Freedom", den die US-Denkfabrik Heritage Foundation und das Wall Street Journal herausgeben. Bereits zum 20. Mal in Folge lag die frühere britische Kronkolonie weltweit ganz vorn - als Wirtschaftsstandort mit dem freundlichsten Business-Klima. Die Stadt profitiert noch immer von ihrer Sonderstellung als Brückenkopf für das Geschäft mit dem Reich der Mitte. Zwar hat das volkswirtschaftliche Gewicht Hongkongs seit der Rückgabe an China und durch den Wirtschaftsboom in der Volksrepublik abgenommen: Im Jahr des "Handover" 1997 steuerte Hongkong noch 16 Prozent zum gesamten chinesischen Bruttoinlandsprodukt bei, heute sind es nur noch magere drei Prozent. Doch als finanzieller Durchlauferhitzer ist Hongkong nach wie vor "unverzichtbar" für die Wirtschaft der Volksrepublik, konstatierte der "The Economist" Ende September.
Die Börse von Hongkong ist die sechstgrößte der Welt und die zweitgrößte in Asien. Außerdem ist die Sonderverwaltungszone das zweitgrößte Private Equity Zentrum in Asien. Mehr als 70 der 100 weltweit größten Banken sind in Hongkong tätig und rund zwei Drittel aller ausländischen Direktinvestitionen nach China laufen durch das finanzielle Nervenzentrum Hongkongs. Auch Jahre nach dem Aufbau der Festlandsbörsen in Shanghai und Shenzen - an denen die Hongkonger Börse beteiligt ist - ist Hongkong der wichtigste internationale Handelsplatz für Aktien chinesischer Unternehmen. Im Dezember 2013 waren insgesamt 1643 Unternehmen an der Hongkonger Börse gelistet, davon 797 Unternehmen aus Festland-China. Auf sie entfallen knapp 60 Prozent der Marktkapitalisierung aller börsennotierten Unternehmen an der Hong Kong Stock Exchange.
Rechtsstaatlichkeit als Standortfaktor
Internationale Unternehmen schätzen Hongkong als Dreh- und Angelpunkt für ihr China-Geschäft nicht nur wegen seines Finanzplatzes, sondern auch wegen der rechtsstaatlichen Rahmenbedingungen und der Unabhängigkeit der Gerichte in der früheren britischen Kronkolonie. Bei einem gewaltsamen Durchgreifen gegen die Demonstranten wären die Folgen für den Standort fatal, meint Sebastian Heilmann, Chef der Berliner China-Denkfabrik MERICS: "Vertreter der Hongkonger Wirtschafts- und Finanzelite wünschen keine anhaltenden Demonstrationen, weil diese bereits jetzt Teile des Hongkonger Wirtschaftslebens lahm legen. Aus ihrer Sicht hätte ein Militäreinsatz verheerende Folgen auf Hongkong als internationalen Finanz- und Wirtschaftsplatz."
Die rechtsstaatlichen Rahmenbedingungen und die Glaubwürdigkeit künftiger Verwaltungen in Hongkong würden durch ein militärisches Eingreifen unwiderruflich beschädigt, unterstreicht Heilmann. "Hongkong würde in der künftigen Verwaltungspraxis dann zu einer wirtschaftlich weiterhin wichtigen, politisch aber "eingereihten" regierungsunmittelbaren Metropole der Volksrepublik China werden - auch wenn es weiterhin als "Sonderverwaltungszone" bezeichnet würde.
Umschlagplatz für die "Volkswährung"
Noch spielt Hongkong eine Schlüsselrolle bei Pekings Strategie, langfristig die Währung Renminbi, was auf deutsch soviel wie 'Banknoten des Volkes' bedeutet, zu einer der weltweiten Leitwährungen zu machen. In mehreren Stufen soll der Renminbi zu einer der wichtigsten Handels-, Investitions- und Reservewährungen werden. Hongkong ist dabei der größte und bedeutendste Handelsplatz der Festlandswährung. 90 Prozent des in Renminbi abgewickelten Außenhandels wurden 2013 über Hongkong abgewickelt. Seit Juli 2010 können dort Banken untereinander Geldgeschäfte in Renminbi abwickeln, an der Börse werden immer mehr Anleihen in der Volkswährung gehandelt und die Finanzbranche entwickelt immer neue Finanzprodukte, die in Renminbi abgewickelt werden.
Shanghai oder Singapur als Krisenprofiteure?
Obwohl Hongkong sehr wichtig für Chinas Zugang zu den internationalen Finanz- und Devisenmärkten sei, habe es aber nicht mehr eine exklusive, unersetzliche Schlüsselposition wie noch vor zehn Jahren, meint China-Experte Heilmann. "Falls der Finanzplatz Hongkong im Kontext der derzeitigen politischen Auseinandersetzungen beschädigt werden sollte, wird das den Aufstieg Shanghais zum wichtigsten internationalen Finanzplatz Chinas beträchtlich beschleunigen - nicht nur, weil die chinesische Regierung das anstreben wird, sondern auch weil die chinesische und internationale Nachfrage sich in Richtung Shanghai bewegen wird."
In der Finanzpresse wird immer wieder darüber spekuliert, wohin die internationalen Konzerne ausweichen würden, falls Peking den Weg der Eskalation wählt. Angeblich existieren bereits Pläne in den Schubladen großer internationaler Banken am Standort Hongkong, einen Teil des Geschäfts nach Singapur auszulagern. Sebastian Heilmann ist da skeptisch: "Singapur ist bereits heute ein wichtiger Offshore-Finanzplatz für chinesische Firmen und Investoren. Von Volumen und Marktdistanz her würde Singapur aber nicht das Hongkonger Geschäft übernehmen können. Im Falle eines politischen Rückschlags für den Standort Hongkong würde Singapur zwar profitieren. Der wichtigste Nutznießer als Alternativ- und Ausweich-Finanzplatz aber wäre zuallererst Shanghai." Denn eine abrupte Schwächung Hongkongs als Finanzplatz würde einen sehr raschen Ausbau Shanghais zum vollwertigen internationalen Finanzplatz Chinas nach sich ziehen - davon ist der Direktor des Mercator Institute for China Studies (MERICS) überzeugt.
Für die chinesische Realwirtschaft wäre eine gewaltsame Lösung des Konflikts in Hongkong zu verkraften, glaubt China-Experte Heilmann: "In wirtschaftlicher Hinsicht wäre ein militärisches Eingreifen in Hongkong mit den damit verbundenen, voraussichtlich kurzfristigen wirtschaftlichen Rückschlägen für China verkraftbar." Der "Economist" sieht das anders: "Es wäre ein schwerer Fehler, anzunehmen, dass Hongkong für China nicht mehr wichtig ist. Wenn China irgendetwas machen würde, was das besondere Verhältnis gefährdet, würde zwar Hongkong am meisten leiden, aber auch China müsste einen hohen Preis zahlen."