Chinesische Tabu-Themen
30. Mai 2014Allein heute, sagt Chang Ping, seien wieder drei seiner Freunde spurlos verschwunden. "Sie hatten sich in der Vergangenheit kritisch geäußert." Dann guckt er kurz in seinem Smartphone nach, ob es nicht vielleicht doch schon vier sind: Seit einem Monat, erzählt der chinesische Journalist, der seit 2011 in Deutschland im Exil lebt, würden jeden Tag Blogger, Journalisten und Menschenrechtsaktivisten verwarnt, verstärkt überwacht und sogar verhaftet. Seit dem Amtsantritt von Regierungschef Li Keqiang im vergangenen März habe sich die Situation für Kritiker im Land deutlich verschlechtert: "Die Repressalien werden immer drakonischer", übersetzt ein Dolmetscher Pings Worte.
"Reporter ohne Grenzen" hatte am Dienstag (27.05.2014) zur Pressekonferenz in Berlin geladen, um im Vorfeld des Jahrestages des Massakers am Platz des Himmlischen Friedens (Tiananmen Platz) vor einer Verschärfung der Zensur und Repressalien im Land zu warnen. Damals, am 4. Juni 1989, wurden Demonstrationen, die mehr Demokratie forderten, niedergeschlagen. Hunderte, vielleicht sogar Tausende starben. Vor dem Jahrestag verschärft Peking regelmäßig das Vorgehen gegen Regierungsgegner.
Doch in diesem Jahr sind die Repressionen besonders stark, glaubt Ping. Die Gesellschaft für bedrohte Völker mit Sitz in Göttingen warnt bereits vor einer "beispiellosen Welle von Einschüchterungen und Verhaftungen", mit der die Regierung versuche, jedes Gedenken an die Opfer zu unterbinden. Dutzende Menschenrechtsanwälte, Professoren, Journalisten und Künstler seien verhaftet worden - darunter auch die Journalistin Gao Yu, die für die chinesische Redaktion der Deutschen Welle arbeitet. Sie wurde Anfang Mai wegen angeblichem Geheimnisverrat festgenommen.
"Dunkelrote Liste" von Tabu-Themen
Natürlich wüssten alle Medienmacher in China, dass das Massaker ein Tabu-Thema sei, sagt Ping, der unter anderem auch für die Deutsche Welle arbeitet. Es stehe auf der "dunkelroten Liste" von Tabus, über die niemals berichtet werden dürfte - neben dem 4. Juni gehörten etwa Tibet oder die Lage der Uiguren-Minderheit dazu. Andere Themen würden durch einen allmorgendlichen Anruf der Behörden bei den Redaktionen festgesetzt: Diese würden strikte Anweisungen geben, welche Themen wie zu kommentieren seien, oder aber eben gar nicht behandelt werden dürften. Auch in den Online-Medien und Mikroblogs wie Sina Weibo würden strikte Vorgaben gelten. Bestimmte Begriffe, etwa der 4. Juni, würden von den Betreibern blockiert, die mit den Behörden kooperierten.
Viele Blogger versuchen auf kreative Weise diese Zensur zu umgehen, indem sie bestimmte Begriffe umschreiben. Als Beispiel nennt Ping die Formulierung "35. Mai", mit dem Blogger den 4. Juni beschrieben - bis die Behörden eingriffen. Die Reaktion der Zensur auf solche Versuche folge meist innerhalb von Stunden, manchmal sogar von Minuten, sagt die Sinologin Kristin Shi-Kupfer vom Mercator Institute for China Studies in Berlin.
Natürlich sei es angesichts der Datenfülle, die über Mikroblogs und Chatprogramme laufe, unmöglich, flächendeckend zu zensieren. Trotzdem: Auch Shi-Kupfer, die bis 2011 als freie Journalistin in China arbeitete, berichtet von einer Verschärfung der Zensur - auch gegenüber ausländischen Journalisten. So würden Aufenthaltsgenehmigungen erst spät verlängert. Viel gravierender aber sei der schwierige Zugang zu Interviewpartnern. "Da besteht die Sorge, dass Zeugen danach etwas passieren könnte." Ausländische Medien würden deshalb immer mehr zur Selbstzensur gezwungen, glaubt auch Ping.
Internet: Gefahr für Nationale Sicherheit
Beide sind überzeugt, dass die verschärfte Zensur auch nach dem Jahrestag anhalten wird. Im vergangenen Jahr habe die chinesische Regierung das Internet als eine der drei größten Gefahren für die nationale Sicherheit des Landes eingestuft, so Shi-Kupfer. Seitdem würden Handlungen im Internet, etwa die Verbreitung von "Gerüchten", immer stärker kriminalisiert. Dahinter stecke die Angst vor dem Machtverlust: Über das Internet, erklärt Ping, ließen sich viele Menschen schnell mobilisieren. So seien in der Vergangenheit Demonstrationen gegen Bauprojekte über das Internet organisiert worden. Außerdem fürchteten die Behörden wohl, dass sich kritische Ansichten schnell verbreiten würden, sagt Shi-Kupfer: Schließlich hätten immer mehr Chinesen über das Handy Zugang zum Internet.
Deshalb würden die Behörden keine Mühen und Ausgaben scheuen, um immer neue Überwachungstechnik auch aus dem Ausland anzuschaffen, so Ping. Ob China auch deutsche Technik verwendet, kann Ping nicht sagen. Nur soviel: "China kauft Überwachungstechnologie aus der ganzen Welt." Es sei schon gut möglich, dass auch deutsche Firmen den Staat belieferten. Sicher wisse er das aber nicht.
Doch trotz aller Überwachung: Immer mehr Chinesen wüssten, wie sie die "große Mauer der Überwachung", so Ping, überspringen könnten, um den Zensoren im Internet zu entgehen und auch an die Internetseiten ausländischer Medien zu gelangen. Das, sagt Ping, "ist eine Überlebenstechnik für viele."