Prags Peking-Problem
14. September 2020"Ich bin ein Taiwaner!" Es ist ein Satz, der wohl in die tschechische Diplomatie-Geschichte eingehen wird. Der Vorsitzende des tschechischen Senats, Miloš Vystrčil, sprach ihn Anfang September bei einer Rede im Parlament von Taiwan, in Anlehnung an den berühmten Satz John F. Kennedys in Berlin. Gemeint war er als Zeichen der Solidarität mit einem demokratischen Land, das seit Jahrzehnten unter dem Druck seines totalitären Nachbarn China steht.
Der Satz war der zentrale Moment eines Besuchs, über den es seit fast einem Jahr in Tschechien schweren politischen Streit gibt und der zugleich auch in der europäischen China-Politik zu Erschütterungen geführt hat. Denn China hatte den Besuch schon Monate im Vorhinein mit beispielloser diplomatischer Schärfe kritisiert.
Zuletzt drohte der chinesische Außenminister Wang Yi ausgerechnet während eines Aufenthaltes in Deutschland, Tschechien werde einen "hohen Preis" für die Taiwan-Reise des Senatspräsidenten zahlen. Das veranlasste den deutschen Außenminister Heiko Maas bei einem Treffen mit seinem chinesischen Amtskollegen zu selten offener Kritik. Schon zuvor hatten sich weltweit prominente Politiker hinter Vystrčil gestellt.
Neue Eskalationsstufe
Für den heutigen EU-China-Gipfel, der ursprünglich in Leipzig stattfinden sollte, wegen der Corona-Pandemie nun aber digital ausgerichtet wird, ist der Taiwan-Besuch des tschechischen Senatspräsidenten die jüngste und wohl auch heikelste Hypothek. Auf dem Gipfel geht es vornehmlich um Handels- und Investitionsfragen, die China und die EU seit Jahren kontrovers diskutieren. Überschattet werden die Gespräche vom brutalen Vorgehen Chinas gegen die Demokratiebewegung in Hongkong und von der grausamen Unterdrückung der uigurischen Minderheit in China.
Doch mit der chinesischen Kritik am Taiwan-Besuch des tschechischen Senatspräsidenten hat das europäisch-chinesische Verhältnis eine neue Eskalationsstufe erreicht. Nie zuvor in den vergangenen Jahren hat die chinesische Führung ein EU-Mitgliedsland derart kontinuierlich, massiv und offen unter Druck gesetzt. "China benutzt Tschechien als ein Testbett in der EU", sagt der Politologe Jakub Janda, der das Prager "Sicherheitszentrum Europäische Werte" (BCEH) leitet, zur DW. "China probiert in Tschechien aus, wie weit es mit feindlicher Einmischung, Erpressung und Einschüchterung gehen kann, um zu sehen, wie andere EU-Mitglieder darauf reagieren."
Geiselnahme der Elite
Dass sich China ausgerechnet Tschechien ausgewählt hat, ist kein Zufall. Der 2011 verstorbene ehemalige Staatspräsident Václav Havel war nicht nur eng mit dem Dalai Lama befreundet, sondern empfing in Prag auch den taiwanischen Staatspräsidenten und andere hochrangige Politiker der Republik, außerdem forderte er eine UN-Mitgliedschaft für Taiwan.
Unter Havels Nachfolger Václav Klaus änderte sich die werteorientierte Außenpolitik Tschechiens radikal, Klaus besuchte 2004 als erster tschechischer Präsident China. Es waren jedoch der seit 2013 amtierende Staatschef Miloš Zeman und die bis 2017 amtierende Regierung des Sozialdemokraten Bohuslav Sobotka, die China mit unterwürfigen Gesten regelrecht ins Land komplimentierten. Wegen ihrer China-freundlichen Haltung nennt Jakub Janda Zeman und die tschechischen Sozialdemokraten sarkastisch "Botschafter Chinas in Prag" und spricht sogar von einer "Geiselnahme eines Teils der politischen Elite Tschechiens" durch China.
Die chinesische Führung versprach Tschechien 2016 Investitionen von neun Milliarden Euro bis 2020, das Land sollte zum "Tor chinesischer Unternehmen in der Europäischen Union" werden. Es blieb bei dem Versprechen. Das Grundkapital chinesischer Firmen in Tschechien beträgt derzeit lediglich etwa 220 Millionen Euro, Tendenz fallend, während Taiwan immerhin knapp 300 Millionen Euro investiert hat. Was Tschechien von chinesischer Seite hingegen im Übermaß bekam, waren Drohungen, Versuche politischer Einflussnahme und Spionageaffären.
So wurde etwa 2019 nach entsprechenden Warnungen des tschechischen Inlandsgeheimdienstes und des Amtes für Cyber- und Informationssicherheit der Einsatz von Hard- und Software der chinesischen Konzerne Huawei und ZTE in der staatlichen Verwaltung verboten. Auch kam vor knapp einem Jahr heraus, dass China an der renommierten Prager Karls-Universität heimliche Lobby-Aktivitäten finanzierte und chinakritische Forschung zu unterbinden versuchte.
Ein Teil der tschechischen Politik will solche Einmischungsversuche Chinas nicht länger hinnehmen. Der Prager Bürgermeister Zdeněk Hřib beispielsweise kündigte vergangenes Jahr nach chinesischen Drohungen wegen seiner Taiwan- und Tibet-freundlichen Haltung die Städtepartnerschaft mit Peking und schloss eine Partnerschaft mit der taiwanischen Hauptstadt Taipeh ab.
"Verrat an tschechischen Interessen"?
Der vorläufige Tiefpunkt der tschechisch-chinesischen Beziehungen ist jedoch mit dem Taiwan-Besuch des tschechischen Senatspräsidenten erreicht. Ursprünglich war es der einstige Senatsvorsitzende Jaroslav Kubera, der Taiwan besuchen wollte. Er verstarb jedoch im Januar überraschend an einem Herzinfarkt. Kurz darauf fand seine Witwe in seinen Unterlagen einen Drohbrief der chinesischen Botschaft in Prag, der aus der Kanzlei des tschechischen Staatspräsidenten abgesandt wurde. Kuberas Frau macht den Druck auf ihren Mann für dessen plötzlichen Tod verantwortlich.
Kuberas Nachfolger Vystrčil kündigte frühzeitig an, dass er an dem Taiwan-Besuch seines Vorgängers festhalte und mit einer großen Wirtschaftsdelegation auf die Insel reisen werde - was dann Anfang September auch geschah. Dass sowohl Miloš Zeman als auch der rechtsnational-liberale Regierungschef Andrej Babiš wiederholt versucht hatten, Vystrčil von der Reise abzuhalten und ihm indirekt Verrat an tschechischen Staatsinteressen vorwarfen, löste in der Öffentlichkeit heftige Kontroversen aus.
Für Martin Ehl, einen der prominentesten außenpolitischen Kommentatoren Tschechiens, könnte nun ein Wendepunkt in der tschechischen und europäischen China-Politik erreicht sein. "Nach langer Zeit sendet die Tschechische Republik ein diplomatisches Signal, das weltweit wahrgenommen wird und die Tradition von Präsident Václav Havel fortsetzt", schreibt er zum Taiwan-Besuch des Senatspräsidenten in der Zeitung Hospodářské noviny. "Dieser Besuch könnte auch ein Bespiel für andere Demokratien sein."