Christos letztes Werk
14. September 2021Paris schläft noch an diesem frühen Morgen. Es fahren nur wenige Autos auf den Straßen der französischen Hauptstadt. Auf der Champs Élysées sind kaum Touristen zu sehen. Doch am oberen Ende der weltbekannten Prachtstraße, auf dem Place Charles-de-Gaulle, auf dem der von der Sonne angestrahlte Triumphbogen steht, tummeln sich Dutzende Journalisten. Von der anderen Straßenseite des Verkehrskreisel aus filmen sie, wie zahlreiche Kletterer zunächst von der Plattform oben auf dem Wahrzeichen herunter gucken und sich dann langsam von ihr abseilen. Über den Tag hinweg werden diese Akrobaten fast 25.000 Quadratmeter silberblaues recyclebares Polypropylen-Gewebe an den Seiten des Monuments herunterlassen.
Für etwas mehr als zwei Wochen wird das Denkmal im nordwestlichen Paris verhüllt sein. Offiziell eröffnet wird die Installation am 18. September. Und obwohl der inzwischen verstorbene Künstler Christo Vladimirov Javacheff, kurz Christo, Zeit seines Lebens darauf beharrte, dass seine Kunstwerke keine besondere Botschaft hätten, sieht mancher Passant in der Installation eben doch eine.
"Der beeindruckendste Mensch, den ich je kennengelernt hab"
Unter der Menge auf dem Platz befindet sich auch Vladimir Yavachev, der Neffe Christos. Er wurde unter anderem durch die Verhüllung des deutschen Reichstags 1995 bekannt. Vladimir Yavachev hat die Pariser Arbeiten beaufsichtigt, seitdem sein Onkel im Mai vergangenen Jahres im Alter von 84 Jahren verstorben war. Er scheint rastlos, rennt immer wieder über die Straße zum Fuße des Triumphbogens, um den Arbeitern direkt Anweisungen zu geben. Zwischendurch lässt er Passanten ein Selfie mit ihm schießen, gibt Journalisten gegenüber kurze Kommentare ab oder entgegnet ihnen leicht schroff, dass er jetzt keine Zeit hätte. "Wie ich mich fühle? Ich vermisse ihn einfach sehr – er war der beeindruckendste Mensch, den ich je kennengelernt habe", sagt er im DW-Gespräch.
"Ich vermisse Christos Energie, seinen Enthusiasmus, seine Kritik, seine Neugier und seine Begeisterungsfähigkeit." Schon seit 1990, damals als 17-Jähriger, arbeitete Vladimir Yavachev als Christos Assistent. "Die Idee für das Pariser Denkmal hatten mein Onkel und seine Frau Jeanne-Claude schon 1961, als er in der Nähe des Wahrzeichens wohnte. Sie brachten das Ganze dann 1962/63 als Photomontage zu Papier", erklärt Yavachev. "Aber bis 2017 hatten sie nie irgendwelche konkreten Schritte unternommen, wie zum Beispiel Genehmigungen einzuholen, um die Pläne umzusetzen – deswegen führen wir das Projekt erst jetzt durch." Eigentlich sollte die Verhüllung im Frühjahr vergangenen Jahres vollendet sein. Das Team verschob die Arbeiten jedoch – zunächst, weil Turmfalken nach dem Brand an der Pariser Kathedrale Notre-Dame de Paris im April 2019 zum Nisten auf den Arc auswichen, dann wegen der Covid-19-Pandemie. Seinem Onkel und Jeanne-Claude zu Ehren, mit denen er bis zu ihrem Tod 2009 zusammengearbeitet hat, will Yavachev die Verhüllung des Triumphbogens auch zu Ende bringen – schließlich war es Christos Wunsch. "Das ist natürlich eine ganz schöne Verantwortung, ein solches Projekt zu beaufsichtigen. An den Stress muss man sich entweder gewöhnen oder man kriegt einen Herzinfarkt", sagt Yavachev mit einem verschmitzten Lächeln.
Triumphbogen als Paket verschnürt
14 Millionen Euro wird die Installation kosten, alles aus Eigenmitteln des Künstlers finanziert – unter anderem durch den Verkauf von Skizzen, Photomontagen und Miniaturversionen des Kunstwerks. Mehr als 1000 Menschen haben an dem Projekt mitgearbeitet. Dass bei den Arbeiten alles glatt geht, dafür sorgt seit zweieinhalb Jahren auch die 34-jährige Anne Burghartz vom Stuttgarter Ingenieurbüro Schlaich Bergermann Partner. "Es wurde immer weniger Schlaf über die vergangenen Wochen, weil es doch bis zur letzten Minute Einiges vorzubereiten gab. Aber ich bin froh, dass alles geklappt hat, und heute darf ich einfach nur zugucken – als Touristin", sagt die Projektleiterin und lacht. Die Ingenieurin hat zusammen mit ihren Kollegen gemäß den Zeichnungen Christos, der bis zu seinem letzten Tag an dem Projekt mitgearbeitet hat, eine Käfigstruktur entwickelt, die die Fresken und Halbrelieffs am Nationaldenkmal schützt und über die dann der Stoff gezogen wird. Insgesamt 200 Bohrungen hat man für deren Befestigung durchgeführt – nach der Installation werden Denkmalschützer diese Löcher wieder verschließen. "Wenn der Stoff heruntergelassen ist, muss das Ganze noch mit roten Seilen als Paket verpackt werden, und die Falten müssen noch ein bisschen schön gelegt werden. In den Saum des Stoffs kommt jeweils eine Kette hinein, damit es unten schwerer ist", erklärt Anne Burghartz.
Einige Meter von Burghartz entfernt macht der 73-jährige Wolfgang Volz Fotos von den Arbeiten. Seit 50 Jahren dokumentiert er die Kunstwerke Christos und Jeanne-Claudes. "Ich bin der Hüter ihrer Kunst und hebe die Fotos gut geordnet für künftige Generationen auf", sagt er im DW-Gespräch. Aber einfach falle ihm das im Moment nicht: "Es ist natürlich eine Katastrophe, dass die beiden nicht mehr da sind. Aber wir versuchen, das Beste daraus zu machen." Für ihn sind Christo und Jeanne-Claude das wichtigste Künstlerpaar der heutigen Zeit. "Sie laden die Öffentlichkeit ein, sich mit Kunst auseinanderzusetzen – selbst, wenn ihre Kunst keine Message hatte außer der, dass es eben Kunst ist, gute Kunst", meint er.
Kunst ohne Botschaft?
Dass das eingepackte Denkmal keine Message habe, das sieht Stéphane Lembert nicht so. Auch er macht gerade ein Photo von dem Denkmal – allerdings mit seinem Handy. "Ich habe von dem Projekt gelesen und bin extra vorbeigekommen", sagt der 58-jährige Taxifahrer, der Fan zeitgenössischer Kunst ist. "Es ist beeindruckend, das hier zu sehen – genauso beeindruckend wie Christos Verhüllung der Pariser Brücke Pont Neuf 1985. Der Künstler schafft es, durch seine Installationen eine Verbindung zwischen der Vergangenheit und Gegenwart herzustellen. Es ist, als würde er uns sagen, wir müssten weiterhin die Vergangenheit am Leben erhalten."
Für den Neffen Yavachev sind die Kunstwerke seines in Bulgarien geborenen Onkels vor allem ein Ausdruck dessen Suche nach Freiheit. "Er kam aus einem kommunistischen Land und floh von dort als illegaler Einwanderer (nach Österreich)", erklärt er. In jedem Fall hofft Yavachev aber eins - "dass der verhüllte Triumphbogen schließlich so aussieht, dass Christo gesagt hätte, er entspricht genau der Zeichnung." Der Triumphbogen ist vielleicht nicht das letzte Projekt, das er anstelle seines Onkels und dessen Frau durchführt: "Die beiden hatten auch noch vor, die Mastaba, die größte Skulptur der Welt, in den Vereinigten Arabischen Emiraten nahe der Hauptstadt Abu Dhabi zu erschaffen. Eines Tages werden wir das vielleicht auch noch durchführen – in fünf oder vielleicht erst 20 Jahren."