Warum Christo Bulgarien verließ
1. Juni 2020Gabrowo ist eine kleine Stadt mit knapp 60.000 Einwohnern im Herzen von Bulgarien. Berühmt sind die Gabrowtschani für ihren speziellen Humor, ihre selbstattestierte Klugheit und ihre Sparsamkeit. In diesem Städtchen wurde Hristo Wladimirow am 13. Juni 1935 als einer von drei Söhnen der Familie Jawascheff geboren. Bereits in seiner Kindheit kam Christo mit den Künsten in Berührung - vor allem dank seiner Mutter.
Christos Anfänge
Tsveta Dimitrova, die vor der Geburt ihrer Söhne als Sekretärin für die Kunstakademie in Sofia gearbeitet hatte, unterhielt enge Kontakte mit der bulgarischen Künstlerszene. "Die Kulturschaffenden jener Zeit kamen ständig zu uns nach Hause", erinnert sich Christos Bruder, Anani Jawascheff, in einem Interview für das lokale Nachrichtenportal der Stadt. Er und Christo hätten für die Gäste dann Vorführungen gegeben.
Das Aufwachsen in der Kunstszene hat nicht nur Christo geprägt, sondern auch seinen Bruder Anani, der heute ein angesehener Theaterdarsteller in Bulgarien ist. Die Familie Jawascheff bekam damals viele Geschenke und Erinnerungsstücke von Künstlern, die jedoch teilweise bei den vielen Umzüge der Familie verloren gingen oder später, nach der Machtübernahme durch die Kommunisten, verstaatlicht wurden.
Die Heimat - ein Ort des Schreckens
Die Vergangenheit der Familie Christos ist von Flucht geprägt. Am 18. März 1913 fiel der griechische König in Thessaloniki einem Attentat zum Opfer, daraufhin erklärten Serbien, Montenegro, die Türkei, Rumänien und Griechenland Bulgarien den Krieg. Alle Bulgaren, und davon lebten viele in Thessaloniki, wurden vertrieben. Christos Familie mütterlicherseits wurde ins Visier genommen, an dem Attentat beteiligt gewesen zu sein, denn der Großvater war ein reicher Mann mit einem großen Anwesen, wo viele bulgarische Künstler auftraten. Er wurde in Griechenland gefangen genommen, die Großmutter und die Mutter konnten sich in letzter Sekunde retten und aus Thessaloniki fliehen - nach Bulgarien.Doch das prägendste Erlebnis für die drei Söhne war die Festnahme des Vaters, der ein erfolgreicher Ingenieur war. Nach dem Einmarsch der Roten Armee in Bulgarien 1944 wurde ein Großteil der Intelligenzija verhaftet, insgesamt 30.000 Bulgaren wurden in den ersten vier Monaten ermordet. Der Vorwurf: Nicht-Einreihung in das kommunistische System. Auch der Vater von Christo wurde ins Gefängnis gesteckt - sein Schicksal war lange ungewiss, erst Jahre später wurde er als gebrochener Mann aus der Haft entlassen.
Während der Vater im Gefängnis saß, kämpfte die Mutter ums Überleben: Anani Jawascheffs Erzählungen zufolge musste sie sogar die eigenen Möbel verkaufen, um die Familie ernähren zu können.
Christo - Reise ohne Wiederkehr
Es waren diese Momente, die den heranwachsenden Künstler Christo prägten und ihn innerlich von seiner Heimat entfernten. Nach seinem Abitur 1952 schrieb er sich an der Akademie der Künste in Sofia ein, wo er bis 1956 studierte. Doch die Jahre der staatlich verordneten Kunst setzten ihm zu. Eine Kunst, die die Erfolge des Sozialismus präsentieren sollte - glückliche Bauern, reiche Ernten, Staatsmänner, Größe, Überlegenheit - war nicht Christos Kunst. 1956 reiste er mit einer Ausnahmegenehmigung zu seinem Onkel nach Prag. Er hatte kaum Geld und malte Gemälde, um über die Runden zu kommen.
Seinem Bruder Anani schrieb er in einem Brief: "Ich kann das nicht mehr ertragen. Es macht keinen Sinn, mich mit Menschen zu treffen, die mich vier Jahre (an der Kunstakademie in Sofia, Anm. d Red.) nicht verstanden haben, Menschen, die Egoisten sind, die mich erniedrigt haben und mir eingetrichtert haben, dass nur sie wissen, wie man Kunst macht. Kunst, die eine gemeine Lüge ist, zynischer Unsinn, das kann keine Kunst sein." Weiter schrieb er: "Ich bin Künstler und ich will meine Kunst machen, aber das war in Bulgarien nicht möglich. Im Dezember folgte der nächste Brief: "Die Kunst kann nur eine Frucht der eigenen Inspiration sein, das kann nicht von außen aufoktroyiert werden."
Flucht aus Prag in den Westen
In Prag spüre man die westliche Brise, ließ Christo seinen Bruder wissen. Doch er blieb nicht dort, es trieb ihn gen Westen. Er tat sich mit einigen Ärzten zusammen, gemeinsam bestachen sie einen Zollbeamten. Es war ein kalter Januartag im Jahr 1957, als sie sich in verplombten Waggons versteckten. Die Angst, verraten zu werden, endete erst, als sie sicher in Österreich angekommen waren. Der junge Bulgare suchte in Wien einen Freund seines Vaters auf – und aus Hristo Jawascheff wurde Christo, der freie Künstler.
Die Staatssicherheit und die bulgarische Gesellschaft
In Christos Akte, ausgestellt von der bulgarischen Staatssicherheit, wurde nach seiner Flucht lediglich vermerkt: "Er wird nicht vor Gericht gestellt, weil er keine materiellen Werte im Land besitzt." Niemand sprach über den Flüchtigen, weder die Kollegen aus der Kunstszene noch die Familie. "Die Menschen hatten Angst, über ihn zu sprechen," erinnert sich sein Bruder. "Einmal traf mich eine Mitschülerin von Christo und fragte, was mein Bruder mache. Meinst Du Christo? Nein, dein anderer Bruder, Stefan."
Als Christo und seine Frau Jeanne-Claude 1985 die Brücke Pont Neuf verpackten, bekam die bulgarische Öffentlichkeit nichts davon mit. In seiner Akte taucht dazu lediglich eine Notiz des Korrespondenten der Bulgarischen Nachrichtenagentur BTA mit dem Vermerk "für interne Nutzung" auf.Ein Vierteljahrhundert musste vergehen und das kommunistische Regime fallen, damit über Christo in seinem Geburtsland gesprochen wird. Er selbst redete nur selten über seine Jugend in Bulgarien, sprach nur ungern in seiner Muttersprache. Die Umstände seiner Kindheit, die Unmöglichkeit, seine Eltern zu Grabe zu tragen und sich zu verabschieden, hatten ihn sprachlos gemacht, sprachlos über seine Heimat, die nie eine für ihn war.
Jetzt starb Christo im Alter von 84 Jahren in seiner Wahlheimat New York.