Cicinskas: Baltischer Blick auf die Krise
15. September 2013Deutsche Welle: Die EU-Finanzminister haben unter litauischer Präsidentschaft hier in Vilnius über die Schulden- und Bankenkrise beraten. Wie beurteilen Sie die Lage in der Europäischen Union. Wie sind ihr Land Litauen und die baltischen Nachbarn Lettland und Estland durch die Krise gekommen?
Jonas Cicinskas: Die Bankenkrise haben wir ganz gut gemeistert, aber nicht wegen der Maßnahmen unserer Regierung, sondern vor allem deshalb, weil die meisten Finanzinstitutionen bei uns Tochterunternehmen internationaler Konzerne sind, also nicht in ausländischem Besitz sind. So haben wir von der Rettungsstrategie moderner Banken und deren Finanzkraft profitiert. So konnten wir vermeiden, dass unsere Regierung die Banken retten musste. Was das staatliche Haushaltsdefizit angeht, da hat die Regierung die Staatsausgaben drastisch zurückgefahren. Die Löhne und Gehälter wurden um 30 Prozent gekürzt. Wir können dankbar sein, dass die Regierung so resolut war und wir, die Menschen, diese harten Einschnitte hingenommen haben. Sogar die Renten wurden gekürzt, was der Oberste Gerichtshof nach einem Jahr jedoch gestoppt hat.
Nach harten Jahren geht es in Litauen wirtschaftlich wieder aufwärts. Wenn Sie die Lage hier vergleichen mit Griechenland, Zypern, Spanien oder Italien, verstehen Sie dann die Proteste? Sie haben ja die gleichen Sparmaßnahmen durchgezogen, wie das jetzt die Südländer tun müssen?
Ja, aber der Unterschied ist, dass Litauen keine Hilfe von außen erbeten hat, weder bilateral noch etwa vom Internationalen Währungsfonds. Wir haben uns selbst geholfen. Mit Ausnahme von Griechenland haben die Krisenländer die Löhne nicht gesenkt. Wir haben das aber getan. Man hätte da eine große Unzufriedenheit erwarten können, aber es gab sie nicht. Ich wundere mich selbst darüber, wie wir in den baltischen Staaten öffentlichen Widerspruch so komplett vermeiden konnten. Meine Erklärung ist, dass unsere Gesellschaften Entbehrungen noch gewohnt sind. Sie haben nach der Unabhängigkeit von der Sowjetunion vor über 20 Jahren und auch davor noch tiefere Wirtschaftskrisen ausgehalten. Die Sozialleistungen brachen weg. Wir mussten den Übergang vom Kommunismus zur Marktwirtschaft schaffen. Von einen Tag auf den anderen haben wir nicht mehr mit dem Osten gehandelt, sondern mit dem Westen. 1999 gab es erneut eine schwere Krise. Einkommen zu verlieren war für uns also nicht Neues und wir wussten, man kann es schaffen.
Wir beurteilen Sie die wirtschaftliche Lage in Europa heute. Wir kommen aus einer Rezession vielleicht in einen wirtschaftlichen Stillstand. Wann wird es in den nächsten Jahren wieder aufwärts gehen?
Wir haben nach 2009 in Europa eine zweifache Rezession erlebt, einen sogenannten double dip. Alle wussten, dass das passieren kann, waren dann aber doch überrascht. Das zeigt, dass irgendetwas Fundamentales in Europa nicht stimmt. Die Erwartungen waren negativ. Es gab nicht die richtigen Werkzeuge, um einzugreifen und sich auf den internationalen Märkten zu behaupten. Das führt zu Pessimismus und zum Zögern bei Investitionen. Das wiederum bringt diese seltsam langsame Erholungsphase nach der Krise, wo wir die Talsohle ja hinter uns gelassen haben. Für so etwas gab es eigentlich kein Vorbild. Man hat die gleichen Rezepte angewendet wie immer, die helfen aber nicht so richtig. Die Konjunkturmaßnahmen der Regierungen führen nicht zu einem wirklichen Wachstum. Denn die Wirtschaft beruht hauptsächlich auf Psychologie. Die Stimmung der Menschen ist entscheidend. Europa an sich ist reich. Es gibt genug Geld und Kapital, aber uns fehlen Ideen. Es fehlt an Entschlossenheit, an Investoren, Visionen und Zielen. Das Geld liegt ungenutzt herum. Wir warten einfach weiter ab.
In der Euro-Zone haben wir zwei Lager. Das eine scharrt sich um Deutschland und Bundeskanzlerin Angela Merkel, die sagt, wir müssen sparen und die Haushalte in Ordnung bringen. Die andere Seite, also Griechenland, Spanien, Italien, Frankreich ist dafür mehr Geld auszugeben, um die Wirtschaft anzukurbeln und Arbeitsplätze zu schaffen. Welches Lager hat recht?
Kleine Länder haben keine andere Wahl als zu sparen und die Haushalte auszugleichen, die öffentlichen und die privaten. Um mehr auszugeben, müssten sie Schulden machen. Die Zinsen dafür würden immer weiter steigen. Große Länder wie Deutschland oder Frankreich haben die Möglichkeit, sich Geld zu leihen und die Wirtschaft mit besonderen Anreizen zu locken. Das geht, wenn man nicht zu sehr verschuldet ist. Ansonsten würden neue Schulden immer teurer, immer teurer.
Das beste Beispiel für eine lockere stimulierende Ausgabenpolitik sind die USA. Sie haben eine eigene Währung, die sie einfach durch Drucken vervielfältigen. Dieses Geld leiht sich der Staat von der Zentralbank und gibt es aus. Weil der Dollar Leitwährung in der Welt ist, verteilen sich die billigen Dollar über die ganze Welt und werden von China und anderen absorbiert. Dadurch ist die Gefahr einer Geldentwertung, einer Inflation noch gering. Das trifft auf Länder wie Großbritannien oder Frankreich nicht zu. Die sollten sich sehr genau überlegen, ob sie Schulden machen, Geld ausgeben und Geldentwertung riskieren.
Also, ich bin schon für die Konsolidierungspolitik von Frau Merkel, denn irgendwann muss man die Schulden ja zurückzahlen. Auch die USA dürfen nicht übertreiben, denn wenn der Dollar-Wechselkurs, oder in Europa der Euro, gegenüber anderen Währungen irgendwann sinkt, dann kann es auch zur Inflation kommen. Die internationale Wettbewerbsfähigkeit ginge verloren. Und die ist auf globalen Märkten nun einmal unheimlich wichtig.
In den Krisenländern gibt man die Schuld für die Sparmaßnahmen gerne Deutschland oder Bundeskanzlerin Merkel selbst. Teilen Sie diese Auffassung, dass Deutschland oder Merkel für diese Dinge verantwortlich sind?
Nein, auf gar keinen Fall! Ich finde gut, wie Frau Merkel agiert. Sie ist sowohl vorsichtig, reserviert, aber auch entschlossen, die Euro-Zone am Leben zu erhalten. Die Euro-Staaten haben zu viel ausgegeben und Merkel wäre wahrscheinlich glücklicher, wenn einige Staaten in der Peripherie aus der Euro-Zone austreten würden. Aber das geht nicht. Die Alternative ist, diesen Staaten zu helfen, um sie im Euro zu halten, aber natürlich nur gegen harte Auflagen. Anders würde das nicht funktionieren, weil wir nicht jedes Defizit jedes Staates finanzieren können.
Jonas Cicinskas ist Professor für europäische Studien und politische Ökonomie an der Universität Vilnius. Er ist Experte für internationale Finanzbeziehungen. Vor seiner wissenschaftlichen Karriere war er von 1995 bis 1997 Botschafter an der Ständigen Vertretung Litauens bei der Europäischen Union in Brüssel. Litauen, das derzeit die Ratspräsidentschaft der EU innehat, ist 2004 der Union beigetreten. Die Einführung der Gemeinschaftswährung Euro könnte 2015 erfolgen.