Corona: Zwölf Monate und viele Tote
26. Februar 2021Am 26. Februar 2020 verzeichnete Brasilien seinen ersten Corona-Patienten. Ein 61 Jahre alter Mann aus São Paulo hatte sich auf einer Italien-Reise infiziert. Der erste Todesfall wurde am 12. März registriert, als die 57 Jahre alte Hausangestellte Rosana Aparecida Urbano in São Paulo verstarb.
Ein Jahr später steht Brasilien bei mehr als 250.000 Corona-Toten und 10,3 Millionen Infizierten. Aufgrund mangelnder Tests dürfte die Dunkelziffer wesentlich höher sein, glauben Experten. Aber auch so sind die Zahlen erschreckend. Weltweit haben nur die USA und Indien mehr Infizierte, bei den Toten liegt Brasilien gar auf Platz zwei. Ende Januar gab das australische Lowy Institut Brasilien in einem Vergleich von 100 Ländern die schlechtesten Noten bei der Pandemie-Bekämpfung.
Chronik einer angekündigten Tragödie
Verantwortlich dafür ist für viele Menschen der Präsident. Mehr als "eine kleine Grippe" oder "Erkältung" sei da nicht, hatte der Rechtspopulist Jair Messias Bolsonaro zu Beginn der Pandemie verkündet. Mehrmals deutete er an, dass er das Coronavirus für eine geplante chinesische Attacke auf ihn und sein politisches Idol Donald Trump halte. Dagegen organisierte Bolsonaro ein kollektives Gebet im Präsidentengarten. Zudem hatte Trump ihm das Malariamittel Chloroquin als Wunderwaffe gegen COVID-19 empfohlen, obwohl wissenschaftliche Studien eine medizinische Wirkung widerlegt hatten.
Neben derartigen bizarren Aktionen war der Pandemiebeginn in Brasilien von mangelnder Koordinierung und Kontrolle des Infektionsgeschehens geprägt, resümiert die Epidemiologin Ethel Maciel von der Bundesuniversität UFES im Gespräch mit der Deutschen Welle. "Die Zentralregierung war während der ersten Welle der Meinung, dass Lockdowns oder das Tragen von Masken vollkommen unnötig seien. Und dieses Fehlen einer zentralen Koordinierung hat im Laufe der Zeit dazu geführt, dass jeder Bundesstaat seine eigenen Maßnahmen erließ."
Dem Chaos bei den Maßnahmen folgte ein Chaos beim Einkauf des medizinischen Equipments. Dazu kamen rasche Wechsel an der Spitze des Gesundheitsministeriums. Zwei Minister mussten gehen, weil sie Bolsonaros Kurs nicht mitmachen wollten.
Bolsonaro will Öffnungen statt Lockdown
Der Präsident forderte zum Schutz der Wirtschaft die komplette Öffnung. "Wir alle müssen eines Tages sterben", so Bolsonaro. Ein Urteil des Obersten Gerichts sicherte den Gouverneuren und Bürgermeistern jedoch das Recht zu, unabhängig Beschränkungen zu erlassen. Seitdem schieben sich Bund, Länder und Gemeinden gegenseitig die Schuld an der Krise zu.
Dabei wäre eine Koordinierung durch die Zentralregierung dringend nötig gewesen. "Im Laufe der Krise wurde klar, wie sehr wir vom Ausland abhängig sind, sei es bei der Beschaffung von Masken, Beatmungsgeräten oder Spritzen", so Maciel. "Und heute haben wir bei der Beschaffung der Impfstoffe immer noch diese Politisierung zwischen den Bundesstaaten und dem Bund." So weigerte sich Bolsonaro lange, die vom Bundesstaat São Paulo eingekauften Impfdosen aus China anzunehmen. Seinem Erzfeind João Doria, dem Gouverneur São Paulos, wollte er den Triumph nicht gönnen, ganz Brasilien ausgerechnet mit einem chinesischen Impfstoff zu beliefern.
Politische Grabenkämpfe um Impfstoffe
Stattdessen setzte Bolsonaro alles auf den britisch-schwedischen Hersteller AstraZeneca, der derzeit Lieferprobleme hat. Angebote wie die von Pfizer/BioNTech, bereits im Dezember bis zu 70 Millionen Impfdosen zu liefern, lehnte Bolsonaro hingegen ab. "Das hätte unsere Impfkampagne komplett anders aussehen lassen", so Maciel. Stattdessen wurden bisher nur rund drei Prozent der Brasilianer geimpft, und in vielen Großstädten ruhen die Impfungen derzeit aus Mangel an Impfdosen.
Zum Problem ist auch Gesundheitsminister Eduardo Pazuello geworden, ein General und angeblicher Experte in Logistik. Den tödlichen Mangel an Sauerstoff in den Krankenhäusern der Amazonas-Region im Januar konnte er jedoch nicht verhindern. Auch bei der Verteilung der Impfstoffe hapert es, während Pazuello wegen der landesweiten Verteilung des wirkungslosen Chloroquin Ärger mit der Justiz droht. "Ausgerechnet mitten in unserer größten Gesundheitskrise werden wir von Leuten regiert, die nicht wissen, was sie tun", so Maciel.
Bolsonaro wurde vom Coronavirus überrascht
"Das Coronavirus hat alle überrascht, auch Bolsonaro", betont der Politologe Marco Aurelio Nogueira gegenüber der DW. "Selbst wenn jemand anderes in diesem Moment Präsident gewesen wäre, hätte das Virus großen Schaden angerichtet." Zudem sei es schwierig, einfachste Maßnahmen gegen die Ausbreitung des Virus durchzuführen. "Hygiene und Abstandhalten ist in einem Land wie dem unseren schon zu kompliziert. Denn die Mehrheit der Bevölkerung muss arbeiten gehen, nur wenige können vom Home-Office aus arbeiten. Die Regierung hat daran keinerlei Schuld."
Trotzdem nimmt Nogueira die Regierung in die Pflicht. "Sie hat diese Krankheit nicht ernst genommen, und Bolsonaro hat sie gar banalisiert, entweder weil er ein kompletter Ignorant ist oder aus ideologischen Gründen." So sei der Präsident bemüht gewesen, viele Leute von der angeblichen Harmlosigkeit der Krankheit zu überzeugen, um die Wirtschaft am Laufen zu halten. "Gleichzeitig hat die Regierung eine extreme Unfähigkeit gezeigt, die Maßnahmen zu koordinieren. Und Gesundheitsminister Pazuello hat die Tragödie nur noch vergrößert. Er verfügt über keinerlei Fachkompetenz, Kommunikationsfähigkeit oder politisches Fingerspitzengefühl."
Konsequenzen für Bolsonaro bei den nächsten Wahlen?
Derzeit sind Bolsonaros Umfragewerte mit rund 35 Prozent Zustimmung überraschend positiv, wohl auch weil rund ein Drittel der Brasilianer mit Corona-Hilfen über Wasser gehalten wurde. Seine Wiederwahl 2022 steht trotzdem in den Sternen. "Bis zu den Wahlen Ende 2022 wird die Wirtschaft nicht wieder richtig zum Laufen kommen, vor allem weil wir wohl erst im nächsten Jahr die Impfkampagne abschließen können", gibt Nogueira zu bedenken.
Und wenn die Todeszahlen weiterhin bei täglich 500 bis 1000 liegen, werde man Ende 2021 bei einer halben Millionen Toten ankommen. Das sei politisch nicht so leicht zu überleben, glaubt Nogueira.