Corona: Beunruhigende Signale aus Russland
30. Oktober 2020Omsk ist eine sibirische Großstadt mit fast 1,2 Millionen Einwohnern. Ein Vorfall dort hat erneut die Aufmerksamkeit auf die Situation rund um das Coronavirus in den Regionen Russlands gelenkt. So konnten am 27. Oktober für zwei ältere COVID-19-Patienten mit schwerem Verlauf stundenlang keine Plätze in einem Krankenhaus gefunden werden. Die Notärzte brachten die beiden schließlich zum regionalen Gesundheitsamt, um die Beamten auf das Problem aufmerksam zu machen.
Äußerlich betrachtet verläuft die zweite Corona-Welle in der Russischen Föderation ruhiger als die erste. Die Beschränkungen sind nicht so streng wie im Frühjahr und die meisten Geschäfte bleiben geöffnet. Aber die Zahl der Menschen, die sich in allen Regionen des riesigen Landes mit dem Coronavirus infizieren, steigt unaufhaltsam. Die Behörden verweisen darauf, dass inzwischen mehr getestet wird. Doch Meldungen aus den Regionen deuten darauf hin, dass nicht nur die Testhäufigkeit eine Rolle spielt.
Patienten sterben an Sauerstoffmangel
In der Nacht auf den 12. Oktober sind im südrussischen Rostow am Don 13 Patienten gestorben. Die Schreckensnachricht wurde von den Angehörigen in sozialen Netzwerken verbreitet. Passiert sei dies im städtischen Krankenhaus Nr. 20, das eigens für COVID-19-Kranke hergerichtet wurde. Die Informationen wurden später auch von Mitarbeitern der Klinik, die anonym bleiben wollen, gegenüber lokalen Medien bestätigt. Die Behörden vor Ort, wie auch Gouverneur Wassilij Golubew, weisen dies jedoch als Fake News zurück.
Am vergangenen Wochenende veröffentlichte die Rechtsanwältin Jekaterina Gordon auf Facebook die Geschichte des Arztes Artur Toporow, die er später auch in der Zeitung "Nowaja Gaseta" bestätigte. Er arbeitet auf einer Corona-Station jener Klinik, war in der fraglichen Nacht im Dienst und berichtete von Störungen bei der Sauerstoffversorgung. Am 11. Oktober gegen 22 Uhr sei das Messgerät auf null gefallen, woraufhin sich der Zustand der Patienten dramatisch verschlechtert habe. In nur anderthalb Stunden seien fünf Patienten in einer und sechs in einer anderen COVID-19-Abteilung gestorben, so der Mediziner.
In jener Nacht lag auch der an COVID-19 erkrankte Chefarzt Jurij Dronow im Krankenhaus Nr. 20. Am 26. Oktober wurde bekannt, dass er verstorben ist - offenbar in einer anderen Klinik, in die er wohl nach den Problemen mit der Sauerstoffversorgung verlegt worden war. Jetzt wird Krankenhaus Nr. 20 überprüft. Die Leiterin des Gesundheitsamtes der Region Rostow am Don, Tatjana Bykowskaja, ist inzwischen zurückgetreten. Auch die Leiterin des Gesundheitsamtes der Stadt Rostow, Nadeschda Lewizkaja, ist nicht mehr im Amt.
Ärzte warnen vor dem Kollaps des Gesundheitswesens
Kurgan ist ein Verwaltungsbezirk im Südwesten Sibiriens. Dort müssen "Patienten tagelang auf einen Krankenwagen warten. Auf einen Arzt aus einer Poliklinik warten sie eine Woche und länger. Freie Betten gibt es in Krankenhäusern keine mehr, auch nicht genügend Personal. Das Gesundheitssystem steht vor einem völligen Kollaps." Dies haben Beschäftigte und Patienten von vier Krankenhäusern in der Region an Präsident Wladimir Putin geschrieben. Der offene Brief wurde von der russischen Internet-Nachrichtenagentur "Ura.ru" veröffentlicht.
Die Ärzte berufen sich auf Schätzungen der Notdienste, die allein in der Bezirkshauptstadt Kurgan täglich 500 bis 700 Coronavirus-Patienten aufsuchen müssen. Doch die städtischen Beamten melden in ihren Statistiken lediglich eine Zunahme von 70 bis 75 Infektionen pro Tag.
Alexej Kusnezow, Berater des russischen Gesundheitsministers, sagte dem Webportal "RBK", sein Ministerium habe inzwischen eine Gruppe von Experten in die Region Kurgan entsandt, um organisatorische und methodische Unterstützung bei der Behandlung von COVID-19-Patienten zu leisten.
Corona-Kranke liegen in Treppenhäusern
In den regionalen Krankenhäusern gibt es seit Herbstbeginn immer weniger freie Krankenhausbetten. Anfang dieser Woche gingen Bilder aus dem Zentralkrankenhaus in Kuibyschew, Region Nowosibirsk, durch die sozialen Medien. Auf ihnen ist zu sehen, wie ältere Frauen in Betten oder sogar auf gewöhnlichen Bänken direkt in den Treppenhäusern des Krankenhauses liegen. Der stellvertretende Chefarzt räumt Probleme ein, seine Klinik sei völlig überlastet.
Der Mangel an Krankenhausbetten wird in den Regionen der Russischen Föderation ganz unterschiedlich bewältigt. In Barnaul, Hauptstadt der russischen Region Altai, wurde beispielsweise ein provisorisches Krankenhaus in einem Einkaufszentrum eingerichtet. Und in Sankt Petersburg gibt es seit dieser Woche wieder eine Corona-Klinik auf dem Messegelände "Lenexpo", vor dem in kürzester Zeit eine ganze Schlange von Krankenwagen zu sehen war.
Überfüllte Leichenschauhäuser
Am vergangenen Wochenende wurde in sozialen Netzwerken auch ein Video geteilt, das der Mitarbeiter einer Leichenhalle in Nowokusnezk im Südwesten Sibiriens gedreht hatte. Es zeigt einen mit schwarzen Leichensäcken überfüllten Raum. "Alles ist voll mit Leichen, man läuft auf ihren Köpfen herum", beklagt der Autor des Videos.
Eine ähnliche Situation muss das Gesundheitsamt der Region Kemerowo im Westen Sibiriens einräumen. Die übervolle Leichenhalle liege daran, dass viele Angehörige ihre Verstorbenen erst dann abholen wollten, wenn sie selbst ihre Corona-Infektion überwunden hätten. Zudem gibt das Amt einen Mangel an Pathologen zu.
Ein Chefarzt des städtischen Krankenhauses im südrussischen Taganrog erklärte jüngst sogar, in seinem Krankenhaus würden Leichen bereits unter einer Treppe gelagert.
Zweifel an statistischen Angaben
Vom 13. September bis zum 22. Oktober meldeten die Behörden im Sankt Petersburg fast täglich, dass die Zahl der Neuinfektionen die Anzahl genesener COVID-19-Patienten um das Doppelte übersteige. Wie mathematisch genau diese Angaben waren, hat die Lokalzeitung "Bumaga" aufgezeigt. So wurden etwa am 18. Oktober 674 Kranke und 337 Genesene gemeldet, am 11. Oktober waren es 528 Kranke und 264 Genesene, und so weiter. An anderen Tagen wich die Zahl der Genesenen demnach nur geringfügig vom Verhältnis 2:1 ab.
Alexej Rakscha, Demograf und ehemaliger Berater der russischen Statistikbehörde "Rosstat", sagte der Zeitung, ein solcher Zufall sei unmöglich. Schon am nächsten Tag, als auch das Nachrichtenportal "Medusa" die Zweifel verbreitet hatte, kam in den statistischen Angaben dieser seltsame Zufall nicht weiter vor.
Adaption: Markian Ostaptschuk