Corona: Gefangen im Schloss Rheinsberg
10. April 2020"Zwei Jahre lang haben wir dieses Konzert geplant", erzählt Sonia Lescène. Gemeinsam wollten sie auftreten: Das Sängerkollektiv Phønix16 aus Berlin und das bolivianische Orchester OEIN, das experimentelle Musik auf indigenen Instrumenten spielt.
2018 hatten Sonia Lescène, die Produzentin, Timo Kreuser, der künstlerische Leiter von Phønix16, und Carlos Gutiérrez, Leiter von OEIN (Orquesta Experimental de Instrumentos Nativos), sich in Berlin kennengelernt. Beide Musiker sind improvisationsfreudige Querdenker. So hatten sie die Idee, das Orchester aus Bolivien, das ausschließlich traditionelle und in vielen Teilen des Landes fast schon vergessene Instrumente spielt, mit den Sängern von Phønix16 spielen zu lassen. Ein musikalischer Austausch von Melodien, Klängen und Rhythmen, der viel versprach.
Und sie holten viele große Institutionen an Bord: die Berliner Festspiele, das Goethe-Institut, die Beauftragte der Bundesregierung für Kunst und Medien und die Ernst von Siemens Musikstiftung.
Zusammenspiel mit Hindernissen
Doch bereits beim ersten gemeinsamen Treffen gab es Schwierigkeiten. "Im November hatten wir vor, nach Bolivien zu fliegen, um dort zum ersten Mal mit dem Orchester zu proben", erzählt Sonia Lescène. "Doch wir konnten nicht einreisen, weil die Präsidentschaftswahlen in Bolivien überraschend in einem politischen Chaos endeten." Eine vom Militär unterstützte Interimsregierung hatte die Macht übernommen, nachdem Präsident Evo Morales zurückgetreten und ins Exil geflüchtet war. Bolivien erlebte wochenlang heftige Unruhen mit vielen Todesopfern.
In letzter Minute verlegten das bolivianische Orchester und das Berliner Ensemble ihr Treffen ins Nachbarland Peru, in die Anden-Metropole Cusco. Dort probten und planten sie.
Der große Auftritt stand nun auch fest: Sie sollten das Eröffnungskonzert beim Festival MaerzMusik der Berliner Festspiele am 20. März geben, zwei Tage später wollten sie in Dresden auftreten. Auch einige Workshops waren geplant.
Aus Bolivien ins ländliche Brandenburg
Und natürlich mussten sie vorher ihr Repertoire noch einstudieren. Die jungen bolivianischen Musiker - sie sind zwischen 17 und 25 Jahre alt - reisten am 9. März nach Deutschland. Im Schloss Rheinsberg in Brandenburg, etwa 100 Kilometer nördlich von Berlin, konnten sie in der Musikakademie unterkommen und proben.
Die Corona-Pandemie schien da noch fern. "Das Ausmaß der Krise in Deutschland und weltweit war nicht vorhersehbar", sagt Sonia Lescène. Zu diesem Zeitpunkt war keine einzige der geplanten Veranstaltungen abgesagt.
Das geschah überraschend kurz nach Ankunft der Gruppe in Rheinsberg, am 12. März. Die Orchestermitglieder wurden gebeten, sich nicht mehr gemeinsam im Gebäude aufzuhalten und auch nicht mehr gemeinsam das Schloss zu verlassen.
Die Bolivianer versuchten sofort, ihren Rückflug vorzuverlegen - erfolglos. "Kurze Zeit später durfte nach Bolivien auch niemand mehr einreisen, der aus Europa kam", erinnert sich Carlos Gutiérrez. "Es war eine chaotische Woche, denn keiner wusste genau, was kommen würde. Es war einfach nur surreal."
Ein paar Tage später machte die Gruppe noch einen Versuch, von Frankfurt nach Lima in Peru zu fliegen, um von dort aus in ihre Heimat weiterzureisen. Die 25 Orchestermitglieder saßen im Bus nach Frankfurt, als sie erfuhren: Der Flug nach Lima wurde gecancelt. Es blieb nur die Umkehr nach Rheinsberg.
Dort machte sich die Gruppe an die Arbeit. Wenn sie schon im Schloss bleiben mussten, dann wollten sie wenigstens das tun, wofür sie herkommen waren, nämlich musizieren. Sie beantragten beim örtlichen Gesundheitsamt, als ein Haushalt zu gelten und in der Musikakademie Rheinsberg als Gruppe zusammenleben zu dürfen - mit Erfolg.
Unfreiwillige Klausur und Sorge um die Familie
"Ich hatte meinen Koffer für drei Wochen und für winterliche Temperaturen gepackt", erzählt die bolivianische Musikerin Tatiana López mitten im Berliner Frühling. "Jetzt ist schon ein Monat vergangen. Und keiner weiß, wie lange das noch dauern wird."
Die Berliner Festspiele zahlen Unterkunft und Verpflegung der Gruppe, die sich auf rund 1000 Euro pro Tag belaufen. Diese Hilfe könnte jedoch schon bald an ihre Grenzen stoßen, was ein großes Problem darstellt, denn mindestens bis zum 15. April soll die bolivianische Grenze geschlossen bleiben. Den Gästen aus Bolivien bereitet das verständlicherweise Kopfschmerzen. Das Orchester und das Sängerkollektiv haben eine Crowdfunding-Aktion gestartet, um die Bolivianer zu unterstützen, wenn sie länger in Deutschland festsitzen.
"Es ist natürlich schön, im Schloss zu sein, die Gegend ist sehr idyllisch, aber irgendwie herrscht auch etwas Angst. Alles ist so ungewiss", sagt Tatiana López. "Wir machen uns auch Sorgen um unsere Familien zu Hause. Mein Großvater beispielsweise ist 93 Jahre alt. Ich habe Angst, dass er sich das Virus einfangen könnte und ich ihn nie mehr sehen kann."
"Im Oktober sollte eigentlich unser nächstes Konzert in Frankreich stattfinden," sagt Direktor Carlos Gutiérrez. Aber angesichts der Corona-Krise ist nicht klar, ob das klappt. Dennoch gibt er sich optimistisch: "Uns bleibt im Hier und Jetzt zumindest die Musik und die Möglichkeit, gemeinsam zu proben. Das ist das, was wir jeden Tag tun. Und auch die Improvisation ist ein wichtiger Teil unserer Kunst." Eine Fähigkeit, die ihnen gerade jetzt zugutekommt.