Libanons zweiter Corona-Lockdown
13. November 2020Die Straßen in der südlibanesischen Stadt Saida seien noch voll, sagt die junge Houda Houbeish. Die Menschen machten noch schnell ihre Besorgungen. "Sie trinken den einen oder anderen letzten Kaffee außerhalb ihrer vier Wände." Denn die Regierung in Beirut will mit einem "vollständigen Lockdown" die Ausbreitung des Coronavirus eindämmen und damit auch das Gesundheitswesen vor einem Kollaps bewahren. Das teilte der geschäftsführende Ministerpräsident Hassan Diab vor wenigen Tagen mit. Von Samstag an müssen bis Ende des Monats die meisten Geschäfte, Restaurants und öffentlichen Einrichtungen schließen. Täglich ab 17 Uhr (16 Uhr MEZ) wird eine zwölfstündige Ausgangssperre gelten.
"Ich hatte gerade einen Weg gefunden, mit der gesamten Situation im Land umzugehen. Und jetzt kommt wieder ein Lockdown", sagt Houda Houbeish, freiberufliche Journalistin. Sie lebt in Saida, etwa 45 Kilometer von Beirut entfernt. "Ich bin gerne am Meer entlang gejoggt, um Stress abzubauen. Der Gedanke an den Lockdown stresst mich, weil ich weiß, dass ich ans Haus gebunden sein werde", sagt sie. "Und unser Leben ist anstrengend genug."
Corona-Maßnahmen können viele nicht einhalten
Mit dieser Äußerung spielt die junge Frau auf die schwerste Wirtschaftskrise in der Geschichte des Landes an. Die Corona-Pandemie und die verheerende Explosion im Hafen von Beirut, bei der mehr als 190 Menschen starben, mehr als 6000 verletzt und rund 300.000 obdachlos wurden, haben die Lage akut verschlimmert.
"Manche Menschen können sich nicht an die Maßnahmen halten. Ich habe das Glück, auch zu Hause meine Arbeit erledigen zu können, aber was ist mit den Tagelöhnern? Die müssen arbeiten, denn sonst haben sie kein Geld, um Nahrung zu kaufen." Auch wenn die Regierung angekündigt hat, die Maßnahmen strenger durchzusetzen, glaubt sie nicht, dass Saida dabei im Fokus stehe. "Alles in diesem Land konzentriert sich auf Beirut, egal um was es geht."
So sieht das auch Shafik Abdelrahman. Er ist einer der Gründer der Nichtregierungsorganisation Utopia mit Hauptsitz in der nordlibanesischen Stadt Tripoli. Im Fokus ihrer Arbeit stehen soziale Themen und Konflikte. Wenn zum Beispiel ein Friseur heimlich öffne, dann wolle sich sein Konkurrent nicht benachteiligt fühlen, erzählt er. "Hier in Tripoli werden sich sicher nicht alle an die Maßnahmen halten können. Einige Geschäfte haben schon beim ersten Lockdown heimlich aufgemacht. Checkpoints zur Kontrolle der Ausgangssperre gibt es hier auch nicht“, sagt er. "Dass viele Menschen wahrscheinlich heimlich weiter ihre Läden öffnen werden, kann man ihnen auch nicht zum Vorwurf machen. Sie brauchen das Geld zum Überleben. Es gibt keine Unterstützung für sie."
Zahl der Corona-Infizierten steigt
Tripoli hat etwa 500.000 Einwohner. Sie ist die zweitgrößte Stadt des Libanon, 85 Kilometer nördlich der Hauptstadt Beirut gelegen und nach einem Bericht der Weltbank eine der ärmsten Metropolen entlang der gesamten Mittelmeerküste. "Wer glaubt, infiziert zu sein und einen kostenlosen Test in Anspruch nehmen will, der muss manchmal zwei Wochen auf einen Termin in einem städtischen Krankenhaus warten“, sagt Abdelrahman.
Seit Beginn der Pandemie hat es im Libanon nach Angaben des Gesundheitsministeriums über 740 Todesfälle gegeben. Im vergangenen Monat allein wurden 42.000 Menschen infiziert, 277 starben. Die Dunkelziffer dürfte höher sein, da die Testkapazitäten des Landes begrenzt sind. In den Monaten zuvor hatte die Regierung jeweils lokal beschränkte Ausgangssperren in Dutzenden Ortschaften verhängt: Geholfen haben die Maßnahmen offenbar wenig. Dazu kommt: Die Auslastung der Intensivbetten in den Krankenhäusern lag bereits im Oktober bei über 80 Prozent, und nicht alle Krankenhäuser können Isolationsbereiche für COVID-19-Patienten anbieten. Immer mehr Ärzte infizieren sich zudem. Und wer als Arzt eine Möglichkeit bekommt, im Ausland zu arbeiten, geht. Alleine 400 Ärzte sollen 2020 bereits ausgewandert sein, sagte der Vorsitzende der Ärzte Vereinigung, Sharaf Abu Sharaf, der Nachrichtenagentur Reuters.
Keine nationale Strategie der Regierung
Beiruts Regierung macht die Bevölkerung für den Anstieg der Infektionszahlen verantwortlich: "Wenn sich die Libanesen an die Maßnahmen halten und es uns gelingt, das Virus einzudämmen, dann retten wir Leben", sagte Hassan Diab.
Gleichzeitig sind die Gesundheitssektoren unterfinanziert und Menschen kommen aufgrund der Wirtschaftskrise nicht ausreichend an ihre Gehälter oder Erspartes. Nach Angaben der Menschenrechtsorganisation Human Rights Watch (HRW) leben mehr als 55 Prozent der knapp sechs Millionen Libanesen in Armut, das sind rund doppelt so viele wie im vergangenen Jahr während sich die Nahrungsmittelpreise aufgrund der Währungsabwertung verdreifacht. "Wenn der Libanon eine humanitäre Katastrophe abwenden will, sollte er sicherstellen, dass die Menschen die Maßnahmen im Bereich der öffentlichen Gesundheit einhalten können, ohne sich um ihre nächste Mahlzeit sorgen zu müssen",schreibt HRW-Mitarbeiterin Aya Mazjoub in einem Artikel.
Mehr Sorge vor Armut als vor Corona
Die Regierung hat angekündigt, 400.000 libanesische Pfund pro Monat bis Ende des Jahres 2020 an lediglich 240.000 Familien zu zahlen. Das sind umgerechnet derzeit etwa 50 Euro im Monat. Ein Tropfen auf den heißen Stein: Die Menschen bräuchten ein soziales Netz, das sie finanziell auffange, so Mazjoub. Ein neuer Lockdown könne aber nur dann erfolgreich sein, so Mazjoub, wenn er Teil einer größeren nationalen Strategie sei, zu der ein Ausbau der Testkapazitäten gehöre, mehr Investitionen in Krankenhäuser und auch die Kontaktverfolgung verbessert würde.
Auch in Libanons Hauptstadt Beirut bereiten sich die Menschen auf den Lockdown vor. Viele Libanesen halten die Maßnahmen zwar für richtig, glauben allerdings nicht, dass sie erfolgreich sein werden. In der derzeitigen Verfassung des Landes ist die Sorge vieler Menschen vor weiterer Armut einfach größer als vor dem Coronavirus.