Streit um Kirchenschließung in Moskau
19. April 2020Wegen der Corona-Pandemie mussten orthodoxe Christen in Moskau am Sonntag Ostern ohne Gottesdienstbesuch feiern. Das Osterfest wird in der orthodoxen Kirche eine Woche später als in westlichen Kirchen gefeiert. Gläubige verfolgten in der Nacht im Fernsehen und im Internet die Übertragung der Osterliturgien aus beinahe menschenleeren orthodoxen Kathedralen. Der russisch-orthodoxe Patriarch Kyrill I. zelebrierte in Moskau die Messe mit nur zwei Priestern.
In Moskau ist die Lage besonders brenzlich, denn dort wurden mehr als die Hälfte der Coronavirus-Infektionen Russlands registriert. Die Menschen dort dürfen ihr Zuhause nur verlassen, um zur Arbeit, zum Supermarkt oder um mit ihrem Hund im Umkreis von 100 Metern um ihren Wohnort spazieren zu gehen. Die strengen Isolierungsmaßnahmen in der russischen Hauptstadt haben in der vergangenen Zeit viele Menschen davon abgehalten, in die Kirche zu gehen.
Ein letzter Gottesdienst
Als sich am vergangenen Sonntag - dem Palmsonntag der orthodoxen Kirche - einige wenige Gläubige dazu entschlossen hatten, das Risiko einzugehen, zum Gottesdienst in die Sankt-Tatjana-Kirche nach Moskau zu kommen, konnten sie nicht ahnen, dass dies der vorerst letzte Ostergottesdienst für sie sein würde. Im Anschluss versammelte Pater Wladimir Wigilyansky seine Gemeinde, um ihr mitzuteilen, dass er die Anweisung erhalten habe, die Kirche für den Rest der Karwoche für Gläubige zu schließen.
"Was können wir tun? Wir sind verpflichtet, Gott für alles zu danken", sagt Pater Wladimir, während er seine Brille abnimmt und ein Kreuz fest umklammert. Die Behörden trauten der Kirche nicht zu, die Gläubigen vor einer Ansteckung zu bewahren.
"So eine demütigende Haltung gegenüber der Kirche und ihrer Gemeinde ist für uns nichts Neues", sagt er. "Wir haben im 20. Jahrhundert schlimmere Verfolgungen erlitten, als mindestens 100.000 Geistliche getötet wurden. Getötet, erschossen, in Gulags gesteckt - das haben wir überstanden." Er bezieht sich dabei auf den Terror Stalins in den 1930er Jahren und auf die Verfolgung von Geistlichen in der Sowjetunion.
Staat und Kirche - ein brüchiges Verhältnis
Etwa 60 Prozent der 144 Millionen Menschen in Russland betrachten sich als orthodoxe Christen, obwohl nur 13 Prozent mindestens einmal im Monat in die Kirche gehen. Dennoch wird das orthodoxe Christentum manchmal als Teil der russischen Staatsideologie angesehen: Die russische Verfassung soll beispielsweise einen Gottesbezug erhalten. Der russische Präsident Wladimir Putin selbst ist regelmäßig in den Medien zu sehen, wie er wichtige Gottesdienste besucht.
Aber das Coronavirus hat auch einige Brüche in der Beziehung zwischen Regierung und Kirche aufgedeckt. Obwohl die meisten Priester den Aufrufen des Patriarchen zu Hause zu beten, gefolgt sind, sind Geistliche in ganz Russland mit den Behörden aneinander geraten. Ende März ging Erzpriester Andrej Tkatschow so weit, dass er in seiner Kirche in der Region Moskau mit einer Gasmaske predigte. Er sagte der Gemeinde spöttisch, wenn die Menschen nur ihre Fernseher ausschalteten, würden auch die Sorgen um COVID-19 verschwinden.
Als die Gesundheitsbehörden in der nördlichen Republik Komi die Kirchen für Gottesdienstbesucher bis Ende des Monats schlossen, bezeichnete der dortige Erzbischof ihr Vorgehen als "verfassungswidrig" und drohte mit rechtlichen Schritten. Im Ural kam es auch zu Zusammenstößen zwischen der Erzdiözese Jekaterinburg und örtlichen Beamten. Sie hatten in sozialen Medien den Gläubigen dazu geraten, zu Hause zu bleiben.
Benachteiligung der Kirche?
Pater Wladimir von der Sankt-Tatjana-Kirche in Moskau wirft der örtlichen Regierung vor, zu übertreiben und weist darauf hin, dass die russische Verfassung eine Trennung von Kirche und Staat vorschreibt. Er sagt, die Behörden setzten ihre Macht selektiv ein, indem sie den Menschen den Kirchenbesuch verböten, ihnen aber erlaubten, in riesigen Supermärkten einzukaufen, "weil es dabei um die Wirtschaft geht".
"Wenn die Behörden für alle Bevölkerungsgruppen dasselbe täten, würde ich das verstehen. Aber die Regeln gelten nicht für alle", sagt er. Am Mittwoch hat die Stadt Moskau ein System von elektronischen Ausweisen für Fahrten mit dem Auto und den öffentlichen Verkehrsmitteln eingeführt. Beamte, Militärangehörige und Sicherheitsbeamte gehören zu den Gruppen, die von den Beschränkungen ausgenommen sind - nicht aber Geistliche.
Per Videostream auf der Suche nach Gläubigen
Einige Gläubige sehen diese schwierige Situation aber auch als Chance. Das langjährige Mitglied der Sankt-Tatjana-Kirchengemeinde, Mikhail Eremin, ist seit Anfang April für die Online-Übertragung von Gottesdiensten zuständig. Eremin erwartet, dass die Menschen in Russland nach Aufhebung der COVID-19-Beschränkungen wieder in die Kirchen strömen. Er glaubt aber auch, dass traditionelle kirchliche Institutionen in der Lage sein werden, mehr Menschen über das Internet zu erreichen.
"Während der Selbstisolation, wenn die Menschen zu Hause sind, ist der perfekte Zeitpunkt, um alle möglichen Medienprojekte zu entwickeln - YouTube-Kanäle, Websites, Instagram-Kanäle und so weiter. Es ist eine Gelegenheit, neue Leute anzuziehen und mit ihnen zu sprechen", sagt er. Vielleicht ist die Krise ja auch eine Chance, neue Zielgruppen online zu erschließen.