"Indonesien ist eine literarische Schatzkammer"
12. Oktober 2015Deutsche Welle: Welche drei Bücher würden Sie auf eine einsame Insel der 17.000 Inseln des indonesischen Archipels mitnehmen?
Berthold Damshäuser: (Nach einiger Überlegung) Die Bibel, Friedrich Nietzsches "Die fröhliche Wissenschaft" und den Koran.
Kein indonesisches Werk?
Lyrik von Agus R. Sarjono.
Sie haben erst auf Nachfrage ein indonesisches Werk genannt. Wie beurteilen Sie die literarische Bedeutung des südostasiatischen Landes?
Wir müssen zuerst einmal im Plural von indonesischen Literaturen sprechen. Indonesien ist ein Vielvölkerstaat und gleichzeitig eine literarische Schatzkammer. Es gibt rund ein Dutzend schriftlich fixierte Literaturen, darunter die berühmten klassischen Literaturen der Malaien und der Javaner. Aber auch Werke der Minangkabau, der Buginesen, der Sundanesen etc. Dazu gibt es hunderte von mündlich tradierten Literaturen. Die moderne indonesische Literatur, also Literatur in malaio-indonesischer Sprache, ist erst zu Beginn des 20. Jahrhunderts entstanden.
Welche Bedeutung messen Sie der modernen indonesischen Literatur bei?
Die moderne indonesische Literatur ist in der Auseinandersetzung mit europäischer Literatur und westlichem Denken entstanden. Sie hat im Bereich der Kurzgeschichte, des Romans und ganz besonders in der Lyrik großartige Werke hervorgebracht.
Für den kritischen Betrachter stellt sich die Frage, ob die moderne indonesische Erzählkunst an das Niveau der Weltliteratur heranreicht, oder ob ihre Bedeutung möglicherweise in erster Linie darin besteht, dass Indonesier damit über sich selbst Auskunft geben. Anders gefragt: Kann sie darüber hinaus literaturästhetisch oder intellektuell einen Beitrag zu den wichtigen Diskursen unserer Zeit leisten?
Was die Lyrik angeht, so habe ich keinen Zweifel, dass es einige Dichter von weltliterarischem Rang gibt. Zum Beispiel Amir Hamzah, einen Lyriker der in den 1930er Jahren geschrieben hat, auch für Chairil Anwar, wohl auch für Rendra und manche zeitgenössische Lyriker. Sie alle haben großartige sprachliche Kunstwerke geschaffen.
Sie haben bereits angedeutet, dass die moderne indonesische Literatur in Auseinandersetzung mit dem Westen entstanden ist. Gibt es auch eine speziell indonesisch-deutsche literarische Beziehung?
Die jungen indonesischen Schriftsteller haben sich zu Beginn des 20. Jahrhunderts in erster Linie mit niederländischer Literatur beschäftigt, was natürlich mit der Kolonialzeit zusammenhängt, später aber auch mit sonstiger westlicher Literatur und darüber hinaus mit der Weltliteratur. Ich würde nicht von einer speziellen bzw. einer besonders intensiven Beziehung zwischen der deutschen und der indonesischen Literatur sprechen.
Deutsche Literatur ist allerdings durchaus präsent in Indonesien. Brecht, Goethe, Hesse, Rilke, Nietzsche und andere sind ins Indonesische übersetzt und haben in den Werken mancher indonesischer Schriftsteller Spuren hinterlassen. Das beste Beispiel hierfür ist der zeitgenössische Lyriker Agus R. Sarjono, der sich in einer seiner Gedichtsammlungen mit deutschsprachigen Lyrikern wie Celan, Trakl, Rilke, Brecht konkret auseinandergesetzt hat. Von ihm erscheint unter dem Titel "Gestatten, mein Name ist Trübsinn" im September eine neue Gedichtsammlung in deutscher Übersetzung.
Sie haben selbst sowohl deutsche Literatur ins Indonesische als auch indonesische Literatur in Deutsche übertragen. Wie erleben Sie in Indonesien die Präsentation von Werken deutscher Schriftsteller?
Ich gebe ja gemeinsam mit Agus R. Sarjono die "Seri Pusi Jerman", eine Reihe mit Übertragungen deutschsprachiger Lyrik ins Indonesische, heraus, die 2003 initiiert wurde. Bisher sind insgesamt acht Bände erschienen mit Übersetzungen von Brecht, Goethe, Enzensberger, Celan, Trakl und Rilke, um nur einige zu nennen. Gerade vor ein paar Tagen ist der neueste Band erschienen, nämlich eine Sammlung von Gedichten von Hermann Hesse. Das Projekt wird vom Goethe-Institut in Jakarta gefördert und die Präsentationsveranstaltungen finden regelmäßig in verschiedenen indonesischen Städten statt, stets vor großem Publikum.
Zu einer Lesung von Gedichten Goethes kamen drei bis viertausend Menschen. Das Interesse ist sehr groß, insbesondere an Goethe, der ja in besonderer Weise ein Brückenbauer zwischen dem Westen und dem Islam ist [Indonesien ist ein mehrheitlich muslimisches Land, Anm. d. Red.].
Wie wird denn umgekehrt indonesische Literatur in Deutschland wahrgenommen?
Indonesien ist in Deutschland kaum bekannt. Das gilt für das Land als solches und umso mehr für seine Literatur. Ich hoffe natürlich, dass sich das mit der Frankfurter Buchmesse, auf der Indonesien in diesem Jahr Ehrengast ist, ändern wird. Und tatsächlich setzt bereits jetzt eine Veränderung ein. Es wird mehr über Indonesien und seine Literatur berichtet. Vielleicht findet in diesem Jahr die Wende statt, auf die ich seit Jahrzehnten warte.
Bisher war es ein mühsames Geschäft indonesische Literatur bekannt zu machen. Ich habe seit vielen Jahren Lyrik übersetzt, auch Lesungen in Deutschland mit indonesischen Lyrikerinnen und Lyrikern veranstaltet, aber zumeist vor einem sehr kleinen Publikum.
Sie haben die Buchmesse in Frankfurt mit dem Ehrengast Indonesien schon erwähnt. Welche Rolle kann die Messe für die indonesische Literatur spielen?
Die Frankfurter Buchmesse in diesem Jahr ist von größter Bedeutung. Der Werbeeffekt für Indonesien als Land, aber auch für die Kultur und Literatur ist sehr groß. Mehrere wichtige Romane sind in deutscher Übersetzung erschienen. Sie werden rezensiert, die Autoren und Autorinnen veranstalten Lesereisen etc.
Unter dem Titel "Sprachfeuer" wird eine große Anthologie moderner Lyrik erscheinen, in der ein Großteil der indonesischen Gedichte enthalten ist, die ich in den letzten Jahren und Jahrzehnten ins Deutsche übertragen. Ich hoffe, dass indonesische Lyrik durch dieses Buch, das vom indonesischen Nationalkomitee auch als "Präsent" eingesetzt werden soll, zum ersten Mal wirklich wahrgenommen werden wird.
Berthold Damshäuser lehrt seit 1986 indonesische Sprache und Literatur an der Universität Bonn. Er ist Herausgeber von "Orientierungen - Zeitschrift zur Kultur Asiens" und Redakteur des indonesischen Lyrikmagazins "Jurnal Sajak".