Das Ende eines Bündnisses
1. Juli 2016So sehr Michail Gorbatschow zum Ende des Warschauer Paktes beitrug, so wenig wollte er seiner Abwicklung aus nächster Nähe zusehen. Zum Treffen der Ostblockstaaten am 1. Juli 1991 in Prag schickte Gorbatschow seinen Stellvertreter. Gennadi Janajew musste sich anhören, wie der damalige tschechoslowakische Präsident und früherer Dissident Vaclav Havel sagte: "Heute hat der Warschauer Pakt aufgehört zu existieren." Alle applaudierten, nur Janajew nicht.
Die DDR sagt Tschüss!
Das Ostbündnis gab es 36 Jahre lang. Im Mai 1955 wurde es in Warschau gegründet, als acht Länder den Vertrag über Freundschaft, Zusammenarbeit und gegenseitigen Beistand unterschrieben - die Sowjetunion, die Deutsche Demokratische Republik (DDR), die Tschechoslowakei, Ungarn, Rumänien, Bulgarien, Polen und Albanien. Offiziell reagierten diese Staaten damit auf den NATO-Beitritt der Bundesrepublik Deutschland. Doch schnell zeigte sich, dass der Warschauer Pakt nicht nur ein Verteidigungsbündnis war, sondern helfen sollte, die politische Kontrolle der Sowjets im Osten zu sichern. Die Niederschlagung des ungarischen Volksaufstandes 1956 oder des Prager Frühlings 1968 durch die Truppen des Warschauer Paktes sind die bekanntesten Beispiele dafür. Als Folge der Intervention in der Tschechoslowakei trat Albanien am 13. September 1968 aus dem Bündniss aus.
In den 1980er Jahren begann die politische Wende: die polnische Arbeiterbewegung Solidarność, Reformen in der Sowjetunion (bekannt als "Glasnost" und "Perestroika"), danach der Fall des Eisernen Vorhangs und der Berliner Mauer - und bald Gespräche über die deutsche Wiedervereinigung. "Wir hatten vieles zu klären, etwa ob ein vereinigtes Deutschland Mitglied der NATO sein kann. Und: Wann ziehen die Sowjets ab?", erinnert sich Horst Teltschick. Der damalige Berater des Bundeskanzlers Helmut Kohl betont, dass neben Krediten vor allem sicherheitspolitische Zusagen an Moskau einen Kompromiss mit Gorbatschow ermöglichten. Dazu gehörten der Verzicht auf ABC-Waffen oder auf eine Stationierung der NATO-Truppen in den östlichen Bundesländern.
Im September 1990 - nur wenige Tage vor der deutschen Wiedervereinigung - trat die DDR aus dem Warschauer Pakt aus. Rund 360.000 Volksarmisten wurden binnen weniger Tage zu NATO-Soldaten. Ebenso viele Sowjets verließen bis 1994 Ostdeutschland, wofür Bonn damals fast vier Milliarden Deutsche Mark an Moskau zahlte.
Eine Kettenreaktion
Die Wiedervereinigung habe die spätere NATO-Erweiterung erst ermöglicht, meint der deutsch-amerikanische Historiker Konrad Jarausch. Als die DDR das Ostbündnis verlies, glaubte Gorbatschow noch an ganz andere Szenarien. Die lange Feindschaft zwischen Ost und West erklärte man für beendet. "Gorbatschow sprach damals von 'unserem gemeinsamen Zuhause' und versicherte, dass die Sowjetunion bereit sei, den Warschauer Pakt aufzulösen, wenn dafür eine neue Sicherheitsstruktur in Europa entstünde", erinnert sich Dimiter Ludzhew, der zwischen 1991 und 1992 bulgarischer Verteidigungsminister war.
Kein halbes Jahr später verwandelten die Mitgliedsländer des Ostbündnisses in Budapest die Institution aus einer militärischen in eine politische - die Sowjets boykottierten das Treffen. Weitere drei Monate vergingen, bis am 1. Juli 1991 in Prag die politische Vormachtstellung der Sowjetunion für beendet erklärt wurde - bei jenem Gipfel, den Gorbatschow nicht persönlich erleben wollte.
Gebrochene Versprechen?
Er hoffte damals auf eine baldige neue Sicherheitsstruktur in Europa. Doch die NATO überlebte die Auflösung des Warschauer Paktes und sollte bald auch wachsen. Denn die früheren Mitglieder des Ostbündnisses wollten schnell die Seite wechseln und unter den Schutz der NATO kommen.
Der russische Politologe Alexander Galkin, damals im Beraterkreis von Gorbatschow, erinnert sich, dass die USA damals Moskau versicherten, die NATO beabsichtige nicht, sich in Richtung Osten zu erweitern. "Heute nützen mündliche Absprachen wenig", fügt er hinzu.
Gorbatschow verlangte nie vom Westen eine Zusicherung, dass es keine Osterweiterung der NATO geben würde, betont dagegen der deutsche Historiker Heinrich-August Winkler. "Darüber gibt es heute eine lebhafte Debatte", sagt er und unterstreicht, dass es damals vor allem um Bedingungen für die Deutsche Einheit ging, während die Erweiterung der NATO nicht zur Diskussion stand. "Die Legende eines Versprechens, dass es keine Osterweiterung geben soll, kann man getrost historisch beiseite legen", sagt Winkler.
Die Sehnsucht nach Schutz
Nachdem die DDR den Warschauer Pakt verließ, meldeten zunächst die Tschechoslowakei und Ungarn, dass sie in die NATO wollten. Auch eine bulgarische Initiative überraschte damals Washington. Eine Gruppe junger bulgarischer Universitätsprofessoren - unter ihnen der spätere Außenminister Solomon Passy - warb schon 1990 aktiv für die Auflösung des Warschauer Paktes. Innenpolitisch eine heikle Frage, die unter Bulgariens Funktionären Empörung auslöste. Auch im Westen freuten sich nicht alle darüber.
Polen, wo Anfang der 1990er Jahre noch 60.000 sowjetische Soldaten stationiert waren, wollte ebenfalls möglichst schnell in die westlichen Strukturen wechseln, laut wollte man das aber nicht sagen. "1991 schien uns eine NATO-Mitgliedschaft unrealistisch", sagte später der frühere Außenminister Krzysztof Skubiszewski. "Bei Gesprächen mit dem NATO-Generalsekretär Manfred Wörner habe ich klar den Wunsch nach dem Schutz der NATO betont, ohne dass ich gleich die Mitgliedschaftsfrage stellte", so die Erinnerung des Diplomaten.
Mit der Auflösung des Warschauer Paktes Mitte 1991 und dem anschließenden Zerfall der Sowjetunion bekam der Prozess eine neue Dynamik. Zunächst wollte man die Staaten aufnehmen, die geografisch an NATO-Mitglieder grenzen. 1999 wurden Polen, Tschechien und Ungarn Mitglieder der Allianz, während Bulgarien und weitere Staaten noch fünf Jahre warten mussten, bis 2004.
An die Ereignisse von damals wird man sich ganz sicher in wenigen Tagen hinter verschlossenen Türen beim NATO-Gipfel erinnern. 25 Jahre nach dem Ende des Kalten Krieges will das Bündnis seine Präsenz an der Ostflanke betonen - ausgerechnet dort, wo einst Osteuropa den Vertrag über Freundschaft, Zusammenarbeit und gegenseitigen Beistand unterschrieb: in Warschau.