"Das ist doch kein Leben"
8. Mai 2015Es ist wenig los auf den Straßen am Rande von Doha. Ab und zu rollt mal ein Sattelschlepper oder ein Bus vorbei. Staub wirbelt auf. Danach ist wieder Ruhe in der Industrial Area, dem Industriegebiet von Katars Hauptstadt Doha. Weit über eineinhalb Millionen Menschen wohnen hier, mitten im Industriegebiet. Sie wohnen neben Fabriken und Gewerbeeinheiten, Lagerhallen und Wüstenresten. Arbeitercamps, soweit das Auge schauen kann.
Hier leben? Undenkbar.
Hier leben sie, die Gastarbeiter, die das Land der Fifa-Weltmeisterschaft 2022 aufbauen, umbauen - eben neu erschaffen. Diese Menschen sind keine Katarer, diese Menschen kommen aus Nepal oder Bangladesch, Indien oder den Philippinen. Trotz der vielen Menschen ist es eine leblose, triste Ecke in diesem sonst so funkelnd-modernen Land. Graue Bauten dominieren, dazwischen führen meist unasphaltierte Straßen durch den Staub, zwischen drei- bis vierstöckigen Baracken, zumeist ohne Fenster. Hier will man nicht arbeiten. Und leben? Undenkbar.
Es ist Freitag, der einzige freie Tag der Arbeiter und ich hoffe, mit ihnen sprechen zu können. Zum vierten Mal binnen viereineinhalb Jahren bin ich nach Katar gereist, in jenes kleine Land, das sich mit viel Geld anschickt, zu einer großen Sportnation zu werden. Ein Jahr ist seit der großen Ankündigung der Regierung vergangen, das Arbeitsrechtssystem zu reformieren und die Arbeits- und Lebensbedingungen der Gastarbeiter zu verbessern. Das umstrittene "Kafala"-System, nachdem sich Gastarbeiter bei ihren Arbeitgebern eine Erlaubnis zum Verlassen des Landes besorgen müssen, sollte abgeschafft werden. Damals geschah dies unter dem Druck der internationalen Öffentlichkeit, nachdem viele Medien und natürlich auch die DW über unfassbare Zustände auf den Baustellen von Katar berichtet hatten. Hunderte Arbeiter waren auf diesen Baustellen umgekommen - moderne Sklaverei.
16 Personen leben auf 20 Quadratmetern
Im Mai 2014 verkündeten Katars Arbeits- und Sozialministerium Reformen. Das war vor einem Jahr. Nun bin ich zurück in Katar, um zu überprüfen, was aus dem Versprechen geworden ist, reise gemeinsam mit meinem Kamerateam für die ARD-Story "Der verkaufte Fußball" durch das Gastgeberland der FIFA WM 2022. Ich fahre ohne eine festes Ziel durch die Industrial Area. Die Straßen haben hier keine Namen, nur Nummern. 44. Straße, 47. Straße und so weiter. Dann fällt mein Blick auf eine Baracke am Straßenrand. Sie steht neben zwei unbewohnten neuen Häusern. Schnell kommen mehrere Arbeiter angelaufen, die mich bemerkt haben. Sie sind auch neugierig. Wie ich. 300 bis 400 Menschen leben in dem dreistöckigen Bau, sagen mir die Arbeiter.
Sie führen mich herum. Die Küche sieht abstoßend aus, sie ist viel zu klein. Auch Toiletten gibt es viel zu wenige, vielleicht zehn für 100 Personen, manche haben nicht mal eine Tür. Privatsphäre gibt es hier nicht. Die meisten Arbeiter, die in dieser Baracke leben, kommen aus Nepal. Sie zeigen mir ihre Zimmer. Zwölf bis 16 Personen auf gerade Mal 20 Quadratmetern - so leben sie zwei Jahre lang, Tag ein, Tag aus, ohne Urlaub.
Bezahlung unter dem Mindestlohn
"Das ist doch kein Leben", sagt einer der Nepalesen, der seinen Namen lieber nicht nennen möchte. "Die Klimaanlage geht nicht, und das im Sommer bei über 50 Grad und 16 Personen." Die Geschichten klingen genau wie die, die ich hier in Katar schon vor einem Jahr gehört habe. Erneut höre ich von den Arbeitern, dass sie ihre Pässe abgeben mussten, nicht selbst entscheiden können, ob und wann sie ausreisen dürfen.
Und noch etwas berichten sie mir: Sie bekommen nicht den vereinbarten Lohn. 700 Qatari Riyal verdienen sie, erzählen sie. Das sind keine 200 Euro im Monat, deutlich unter dem zwischen Katar und Nepal vereinbarten Mindestlohn von 900 Qatari Riyal. "Das Gehalt ist schlecht", sagt uns der Gastarbeiter, "und die ersten drei Monate haben wir gar nichts bekommen. Dabei haben wir doch Schulden gemacht, um überhaupt hierher zu kommen."
Gefangene des Systems
Sie sind Gefangene dieses Systems. Denn sie sind auf das wenige Geld angewiesen. Fast alle hier überweisen die Hälfte des Geldes in ihre Heimat. Davon lebt oft eine ganze Familie, beispielsweise zuhause in Nepal. Es scheint sich nicht viel verändert zu haben für die hunderttausenden Gastarbeiter in Katar. Die katarische Regierung scheint verstanden zu haben, dass sich etwas ändern muss, aber sie hat wohl die Geschwindigkeit ihrer eigenen Möglichkeiten überschätzt.
Von einer Reform des Arbeitsrechts-Systems und der Lebensbedingungen der Arbeiter kann bisher keine Rede sein. Auch wenn man hinter den Kulissen in Katar hört, dass die Reformen bald umgesetzt werden sollen. Nur einige wenige Personen rund um den jungen, gerade mal 34-jährigen Emir Scheich Tamim bin Hamad Al Thani treffen die Entscheidungen in dem kleinen Emirat am Golf, dem pro Kopf reichsten Land der Erde. In den Ministerien sitzen zu wenige gut ausgebildete, erfahrene Kataris, sagen mir mehrere Insider im Land. Also brauchen Veränderungen ihre Zeit.
Fußball am freien Tag
Viele der Arbeiter in der Industrial Zone versuchen sich abzulenken. Im Staub zwischen den Baracken spielen sie an diesem Tag Cricket oder Fußball. Auf einem freien offenen Feld neben Sandbergen stehen zwei Fußballtore. An die hundert Arbeiter spielen abwechselnd, schauen zu, warten auf ihr nächstes Spiel. Die Stimmung ist ausgelassen. Zumindest heute, da sie nicht arbeiten müssen. Es ist ein glücklicher Moment mitten in der Tristesse. Es ist der Moment, als ich gemeinsam mit meinem Kamerateam festgenommen werde.
Lesen Sie im zweiten Teil der Reportage, wie unser Reporter Florian Bauer festgenommen wird und daraus ein internationaler Skandal wird.