Kampf der Erinnerungskulturen in Osteuropa
9. Mai 2020Russen und Ukrainer haben vor 75 Jahren gemeinsam mit den anderen Völkern der ehemaligen Sowjetunion als Kämpfer der Roten Armee Berlin eingenommen. Ein gemeinsames Erinnern gibt es seit Jahren aber nicht mehr. Der ukrainische Botschafter Andrij Melnyk habe zuletzt die Einladung des Regierenden Bürgermeisters Michael Müller abgelehnt, zusammen mit den Kollegen aus Russland und Weißrussland an einer Kranzniederlegung am 2. Mai teilzunehmen, berichtete der Tagesspiegel. Melnyk begründete seine Absage mit dem andauernden Krieg in der Ostukraine, bei dem die Ukraine Russland als Besatzungsmacht sieht.
Nicht erst seit der Krim-Annexion haben sich Russland und die Ukraine beim Erinnern an das Ende des Zweiten Weltkriegs in Europa voneinander entfernt.
Tag des Sieges als Russlands Staatsfest Nummer eins
Die Coronavirus-Pandemie sorgt derzeit dafür, dass die Feierlichkeiten stark eingeschränkt werden. Für Russland als das Land mit den meisten Opfern des Zweiten Weltkriegs ist das ein besonders harter Schlag. Während im Westen das Kriegsende nie besonders groß gefeiert wurde, war das in der Sowjetunion anders. Unterschiede fingen bereits beim Datum an. Der Westen erinnerte an den Sieg am 8. Mai, dem Tag, an dem die in Reims unterzeichnete Kapitulation der Wehrmacht in Kraft getreten war. Die UdSSR feierte einen Tag später, am 9. Mai, weil der damalige Sowjetführer Josef Stalin auf einer erneuten Unterzeichnung in Berlin bestanden hatte.
Die Entscheidung, die traditionelle Militärparade zu verschieben, sei Wladimir Putin schwergefallen, sagte sein Sprecher. Nach wochenlangem Festhalten am geplanten Termin trotz der Corona-Krise verkündete Russlands Präsident erst Mitte April, dass es in diesem Jahr keine Militärparade weder auf dem Roten Platz in Moskau noch in anderen Städten geben wird. Das Risiko sei zu groß, auch für die Veteranen. Nur die Flugshow ist noch geplant. Dabei war in diesem Jubiläumsjahr eine besonders große Feier angedacht. Auch nach der Krim-Annexion selten gewordene hochrangige Gäste aus dem Westen wurden erwartet, etwa der französische Präsident Emmanuel Macron.
Die Parade am 9. Mai, dem Tag des Sieges im Großen Vaterländischen Krieg, wie es offiziell heißt, hat Russland von der Sowjetunion geerbt, doch diese Tradition erlebte nach deren Zerfall einen Wandel. In den 1990er-Jahren fanden die Paraden unregelmäßig statt, auf schweres Kriegsgerät wie Panzer oder Atomraketen wurde teilweise verzichtet.
Putin gab eine andere Richtung vor und ließ den Siegestag zum inoffiziellen Staatsfest Nummer eins aufwerten. Es marschierten immer mehr Soldaten, die Armee präsentierte modernste Waffen. Neu ist die Aktion "Das unsterbliche Regiment", eine Initiative aus der Provinz, die vom Kreml aufgegriffen wurde. Es sind Bürgeraufmärsche mit Porträts von Verwandten, die im Krieg gekämpft hatten. Auch Putin marschiert mit.
Putin mischt sich in Erinnerungsdebatte ein
Die sowjetische Tradition wurde im heutigen Russland nicht nur bei Paraden übertroffen. Die Erinnerung an den Sieg gegen Hitler-Deutschland wurde zu einer breit angelegten Mobilisierung der Gesellschaft ausgebaut, auch politisch. Es gilt als wichtiger Teil der von Putin ausgerufenen "Patriotismus-Ideologie". Beliebte Aufkleber auf Autos mit Sprüchen wie "Danke dem Opa für den Sieg" oder "Nach Berlin" sind sichtbare Symbole dieser Entwicklung, genauso wie neue Stalin-Denkmäler.
Es ist nicht lange her, da mischte sich Putin persönlich in die Erinnerungsdebatte ein. Der Kremlchef kritisierte Ende 2019 das EU-Parlament, das der Sowjetunion wegen des Hitler-Stalin-Pakts eine Mitschuld am Ausbruch des Zweiten Weltkriegs gegeben hatte. Putin wies das scharf zurück und gab diese Mitschuld Polen, aber auch Frankreich und Großbritannien als Mächten, die 1938 mit Hitler das Münchner Abkommen ausgehandelt hatten. Der russische Präsident sieht sich als Kämpfer gegen das, was er "Geschichtsfälschung" nennt. Dieser "Krieg der Konzepte" werde noch so lange dauern, solange sich Russland als "politischer und historisch-ideologischer" Nachfolgestaat der UdSSR sehe, so der Moskauer Schriftsteller und DW-Kolumnist Viktor Jerofejew. Das sich formierende positive Stalin-Image sei Teil dieser Entwicklung.
Die Ukraine nähert sich europäischer Gedenktradition an
Die benachbarte Ukraine, die nach Bevölkerung einst zweitgrößte Sowjetrepublik, geht beim Gedenken ihren eigenen Weg. Nach 1991 wurde der Tag des Sieges lange in der sowjetischen Tradition weitergefeiert, allerdings immer öfter ohne Kriegsgerät. Dabei gab es zunehmend Versuche, auch die in der Westukraine lebenden Veteranen der aufständischen Nationalisten, die gegen die Sowjetunion gekämpft hatten, aufzuwerten und zu ehren. Das sorgte für Spannungen, denn manche kollaborierten im Krieg mit deutschen Besatzern. Diese Spannungen werden bis heute von manchen Politikern instrumentalisiert.
Unter Präsident Petro Poroschenko wagte die Ukraine einen großen Schritt weg von der sowjetischen Erinnerungstradition. Seit 2015 wird am 8. Mai Tag der Erinnerung und Versöhnung gefeiert - ähnlich wie im Westen. Im Mittelpunkt steht dabei die Erinnerung an die Millionen Kriegsopfer. Ein gesetzlicher Feiertag ist der 9. Mai geblieben, allerdings als Tag des Sieges im Zweiten Weltkrieg und nicht im "Großen Vaterländischen Krieg". Die Ukraine ist in einer Übergangsphase, die nicht immer reibungslos verläuft. Das ebenfalls 2015 beschlossene Verbot sowjetischer Symbolik wie Hammer und Sichel sorgt für Konflikte, auch bei Märschen um den 9. Mai.
Seit 2017 ist in der Ukraine auch das so genannte St.-Georgs-Band verboten. Das schwarz-orange gestreifte Bändchen entwickelte sich in Putins Russland zu einem zentralen Symbol bei Feierlichkeiten am Tag des Sieges. Schleifen in diesen Farben tragen Veteranen, Politiker, Künstler und einfache Bürger. Mit St.-Georgs-Bändchen markieren sich auch prorussische Separatisten in der Ostukraine. Für den ukrainischen Botschafter in Berlin dürfte auch das ein Grund gewesen sein, einer Gedenkfeier mit russischem Kollegen fernzubleiben.