Das polnische Rätsel
21. Juli 2017Donald Trump schien sekundenlang irritiert. Der US-Präsident hatte während seiner sonst umjubelten Warschauer Rede den anwesenden Lech Walesa lobend erwähnt und prompt wütende Buhrufe von den Rängen geerntet, auf denen ausschließlich Anhänger der PiS-Partei angetreten waren. Der frühere polnische Staatspräsident Walesa ist auch in Amerika - wie überall auf der Welt - der einzige wohl wirklich überall bekannte Pole, ein Sinnbild jenes trotzigen polnischen Selbstbewusstseins, das Trump in seiner Rede hochleben ließ. Wie dieser Mann zur Buh-Figur der polnischen Rechten werden konnte, man hat es Trump wohl nicht erklärt. Der US-Präsident stutzte kurz, wollte vielleicht etwas sagen, dann fuhr er fort mit seiner Lobrede auf den polnischen Widerstandsgeist.
Wo der geblieben ist, fragen sich indes auch die, die Polen etwas besser kennen. Wieso nur unterwirft sich das Land der Solidarnosc, das vor einem Vierteljahrhundert mit Mut und Beharrungsvermögen zum Zusammenbruch des Ostblocks beitrug, fast widerstandslos einer neuen Ein-Parteien-Herrschaft? Zwar wird inzwischen wieder täglich demonstriert, und zwar nicht nur in Warschau oder Posen, sondern auch in kleineren Orten, und am Donnerstagabend waren es mehr als je zuvor. Wieso aber erst am letzten Sejm-Sitzungstag vor der Sommerpause, wieso erst fünf nach zwölf?
Wer die fragt, die nicht protestieren, bekommt eine Palette von Antworten, die sich doch ähneln: Die Ärztin Dorota* aus Katowice etwa, die ihren echten Namen nicht nennen will, sieht zwar große Gefahren für ihr Land, aber protestieren geht sie nicht: "Das bringt doch eh nichts", winkt sie ab. "Außerdem habe ich Angst. Angst davor, auf irgendeiner Liste zu landen und dann Probleme mit der Arbeit zu bekommen." Überhaupt steigt die Zahl derer, die Konsequenzen fürchten, Strafen oder andere Rechtsfolgen für unbotmäßiges Verhalten, durchgesetzt von einer vielleicht schon bald politisch gesteuerten Justiz. "Wir haben ein Pflegekind, wir müssen uns ans Gesetz halten", erzählt die Übersetzerin Magdalena*. "Sonst nehmen sie uns das Kind noch weg."
Wut hat viele Quellen
Vor allem aber begegnet man in Polen vielen, die sich generell abgewendet haben von der Politik, Medien und öffentlicher Diskussion. Der Gelegenheitsarbeiter Marek etwa sagt, er habe jedes Vertrauen in "die Medien" verloren, die allesamt ihre eigenen Interessen verfolgten. "Das ist alles eine große Show", sagt der Enddreißiger. Seine Sicht der Dinge stöpselt er sich aus verschiedenen Internet-Quellen zusammen. In der Justiz-Debatte traut er weder der einen, noch der anderen Seite.
Das, was in Deutschland "Politikverdrosssenheit" genannt wird, hat sich in Polen tief in die Gesellschaft gefressen. Das spürt auch Marcelina Zawisza, Frontfrau der jungen linken Partei "Razem", 2015 aus dem NGO-Umfeld entstanden. Razem ("Zusammen") will eigentlich genau das aufbrechen, was viele Menschen verdrießt, nämlich die "zubetonierten Blöcke" in der Politik: "Seit 25 Jahren warten wir darauf, dass endlich Probleme gelöst werden", beklagt sie. Razem unterstützt mal dieses, mal jenes Projekt, egal, ob es vom politischen Gegner kommt oder nicht. Eigentlich müsste dieser neue Stil ankommen. Doch in Umfragen krebst die Partei weiter unter der Fünf-Prozent-Hürde. "Es ist mühsam, Vertrauen aufzubauen", räumt Frau Zawisza ein. Das soziale Vertrauen in Polen sei generell gering. Das in die Politik gleich null.
Vertrauen aufzubauen, ist auch der Justiz seit der Wende kaum gelungen. Es fehlen die großen Urteile, die markanten Stopsignale an die Politik, die den Wert einer selbstbewussten Justiz verdeutlicht hätten. Auch ein hartes Urteil gegen die, die im Kommunismus Verantwortung trugen, hätte sich mancher gewünscht. Dass die Justiz noch immer fest in der Hand postkommunistischer Seilschaften sei, wie PiS und ihre Anhänger behaupten, sei nicht das Problem, glaubt Magdalena, die Übersetzerin: "Das Problem sind die überaus schlechten Erfahrungen mit der Justiz, auch im Kleinen." Endlose Verfahrensdauern, arrogantes Gehabe: Sie kenne viele, die ähnliches durchgemacht haben wie sie selbst. "Die Leute sind wirklich sauer."
Gleichzeitig sind die zehn, vielleicht 20 Prozent polnischer Wutbürger, die Richter pauschal verteufeln und sich darüber freuen, dass es "denen da oben" endlich gezeigt wird, lauter als andere - und treu. Die PiS hat eine überaus loyale Anhängerschaft, sagt der Warschauer Politologe Jacek Kucharczyk - anders als die diversen Oppositionsgruppen, die jeder für sich mit ihrer Glaubwürdigkeit kämpfen. "Bei den letzten Wahlen stimmten 18,6 Prozent für die PiS", erinnert Kucharczyk. "Aber das genügte, weil die Mehrheit der gemäßigten Wähler demobilisiert war."
Neuentdeckung des "kleinen Mannes"
Populistische Parteien wie PiS bündelten diesen Protest und heizen ihn an. Und PiS-Chef Kaczynski hat seit seiner letzten Regierungszeit noch eine andere Lücke ausgemacht: den "kleinen Mann". PiS ist nämlich nicht nur rechts, sondern auch sehr links. Regierungschefin Beata Szydlo begründete erst Anfang der Woche wieder, dass die Justiz auch deshalb "dem Volk" zurückgegeben werden müsse, "weil die Polen von uns erwarten, dass der Staat die Schwachen stützt, und sich nicht an die Seite der Reichen stellt". Auch mit Rentenalter-Absenkung oder Kindergeld hat sich die PiS erfolgreich als Partei der kleinen Leute etabliert.
Das kommt an der PiS-Basis an, etwa in Miechów bei Krakau, eine Hochburg der Kaczynski-Partei. Ludwik*, ein rüstiger Rentner, habe ein distanziertes Verhältnis zu allen Parteien, betont er. Aber dann kommt er doch ins Schwärmen: "Wie haben sie früher die Vorschläge der PiS zerrissen, von Bauernpartei bis Nowoczesna. Aber die Menschen wollten, dass sich endlich was ändert. Dass man uns nicht mehr einredet, dass wir zweite Klasse sind. Jeder Mensch will geachtet werden." Er sei deswegen sehr zufrieden mit der jüngsten Entwicklung. Und, so sagt er, dächten alle in seinem Umfeld. Die Debatte um Rechtsstaat und die Gerichte interessiere hingegen niemanden in Miechów. "Das ist eh alles Lüge", sagt der Rentner. "Von Euch, den Journalisten."
Bei weitem nicht alle Polen nehmen Kaczynski ab, dass er wirklich den kleinen Mann im Sinn hat. Aber nur wenige haben ernsthaft etwas gegen seine Politik. Allerdings ist vielleicht mit den jüngsten Protesten doch die kritische Masse erreicht, vielleicht werden immer mehr Menschen gewahr, was auf dem Spiel steht.