Problem Armut, nicht Roma
25. September 2013In Dortmund riefen Nachbarn, die neben Roma-Familien leben, die Polizei. Ihre Beobachtung: Erwachsene gingen mit je einem Kind in eine "verdächtige" Wohnung und kämen ohne Kind wieder heraus. Die Polizisten stellten fest: Es war ein Kindergeburtstag. Das hat der Autor Norbert Mappes-Niediek von einem Polizisten gehört.
Er erzählt es in der Dortmunder Nordstadt als Beispiel für Vorurteile der Mehrheitsgesellschaft. Mehr als 100 Zuhörer sind zum Vortrag über sein Buch "Arme Roma, böse Zigeuner" gekommen. Der Untertitel lautet: "Was an den Vorurteilen über die Zuwanderer stimmt". Tatsächlich macht er klar, was alles nicht stimmt von dem, was viele zu wissen glauben über die größte europäische Minderheit.
Abgelehnt wie arme Menschen überall auf der Welt
Mappes-Niediek ist Südosteuropa-Korrespondent und trifft Roma auch in den Ländern, aus denen in den vergangenen Jahren EU-Bürger nach Deutschland reisten: Rumänien und Bulgarien. Den Dortmunder Zuhörern erklärt er, dass Roma - in Osteuropa bis Mitte des 19. Jahrhunderts als Sklaven unterdrückt - nach dem Ende des Sozialismus wie Millionen ethnischer Rumänen ihre Arbeit verloren. Seitdem versuchten sie, sich und ihre Familie durchzubringen. Sie würden genauso abgelehnt wie arme Menschen überall auf der Welt. Das Problem ist die Armut, nicht die Roma, das belegt der Autor an vielen Beispielen.
Wie viele Roma aus Südosteuropa nach Deutschland kommen, wird nicht erfasst. In Mannheim sei anfangs die Rede von 60 bis 70 Prozent aller Zuwanderer gewesen, berichtet Daniel Strauß vom Landesverband Deutscher Sinti und Roma in Baden-Württemberg im DW-Interview. Per Mikrostudie und anhand der Zahlen aus den Herkunftsländern überprüfte er das. Sein Ergebnis: Nur acht bis zehn Prozent derer, die kommen, sind Roma. Doch in Deutschland wird der Zuzug ärmerer EU-Nachbarn oft als Roma-Problem geschildert: mit überbelegten Wohnungen zu Wucherpreisen in Schrott-Immobilien und Problemen bei der Versorgung der Kinder. Klagen kommen vor allem aus armen Städten wie Dortmund, Duisburg oder Berlin.
Wie gut die Integration gelingen kann, hat eine christliche Wohnungsgesellschaft gezeigt. In Berlin-Neukölln setzte sie mit Roma-Familien zusammen völlig verwahrloste Häuser instand. Mittlerweile leben dort auch viele Nicht-Roma. Das Projekt bekam einen Preis als "vorbildliche Lösung eines Wohnungs- und Integrationsproblems".
Lob der EU-Kommission für Berliner Aktionsplan
Berlin hat im Sommer 2013 einen "Aktionsplan zur Einbeziehung ausländischer Roma" verabschiedet. Man wolle vor allem die Wohn-Probleme lösen und die Kinder besser schulisch und medizinisch versorgen, erklärt die Berliner Integrationsbeauftragte Monika Lüke im DW-Interview. Bis Anfang 2014 soll es in allen Berliner Bezirken aufsuchende Sozialarbeit geben. Man will zu den Menschen gehen und jemanden mitbringen, der ihre Sprache spricht.
Außerdem wolle man Maßnahmen gegen Antiziganismus fördern, also die Feindseligkeit gegenüber Menschen, die als "Zigeuner" wahrgenommen werden. "Der Aktionsplan ist einzigartig in Deutschland", stellt Lüke fest, "Berlin wird deswegen ausdrücklich von der Europäischen Kommission gelobt." Amaro Foro, ein Berliner Verein junger Roma und Nicht-Roma begrüßt den Aktionsplan auch, befürchtet aber, dass Probleme wie Armut ethnisiert würden. Wenn es lauter Spezial-Angebote für Roma gebe, berge das die Gefahr, dass Roma als "Belastung für die Staatskassen wahrgenommen werden". Das zeige der "rassistische Wahlslogan" der NPD: "Geld für die Oma statt für Sinti und Roma".
Niemand erkennt sie als Roma
"Genau deswegen sind die Maßnahmen nicht ausschließlich für Roma vorgesehen", sagt Monika Lüke, "sondern selbstverständlich für alle Migranten, die in einer ähnlichen Bedürfnislage sind". Natürlich bräuchten auch nicht alle Roma Unterstützung, das sei ein Mythos, viele seien gut integriert.
Viel zu wenig bekannt sei, sagt Norbert Mappes-Niediek im Gespräch mit der DW, dass in den 1960er und 1970er Jahren wahrscheinlich Zehntausende Roma als jugoslawische Gastarbeiter nach Deutschland gekommen seien. "Niemand erkennt sie als Roma", sagt der Autor, "sie teilen mit den anderen Zuwanderern aus Jugoslawien die höchste Integrationsbereitschaft von allen Migranten".
Vorurteile und rechte Propaganda treffen auch deutsche Sinti und Roma
"Niemand erkennt sie", das ließe sich wohl auch über viele der deutschen Sinti und Roma sagen, die seit Jahrhunderten in Deutschland leben. Man schätzt ihre Zahl auf mindestens 70.000. Sie leiden ebenso wie die EU-Zuwanderer unter Vorurteilen und Hetz-Kampagnen der Rechten. Aus Angst vor Diskriminierung geben sich viele nicht zu erkennen.
Die Minderheit wurde von den Nationalsozialisten als "Zigeuner" verfolgt und aus den Schulen verbannt. Hunderttausende wurden ermordet, doch erst Jahrzehnte später kam die Anerkennung als Opfer. Seit 2012 gibt es ein Denkmal für die ermordeten Sinti und Roma in Berlin. Nach Schleswig-Holstein wollen weitere Bundesländer die Minderheit ausdrücklich anerkennen und fördern. Daniel Strauß, Vorsitzender des Landesverbands Deutscher Sinti und Roma in Baden-Württemberg arbeitet an der Idee, dass sich irgendwann erfolgreiche Sinti und Roma in Deutschland als Mitglieder der Minderheit outen.
Mit Romeo Franz hat 2013 erstmals ein Sinto für den deutschen Bundestag kandidiert. Er komponierte die Musik, die am Denkmal für die ermordeten Sinti und Roma in Berlin erklingt. Als Mitglied von Bündnis90/Die Grünen hat Franz zwar den Einzug in den Bundestag verfehlt, doch für ihn ist seine Kandidatur trotzdem "ein großer Erfolg", weil er Menschen für das Thema Sinti und Roma sensibilisieren konnte.
"Jetzt werden alle denken, dass Du eine von uns bist"
Nach dem Vortrag von Norbert Mappes-Niediek in Dortmund gibt es viele Gespräche. Eine Studentin, die eine Bachelor-Arbeit über Migration aus Rumänien schreibt, erzählt von einer rumänischen Roma, die hochschwanger mit unerträglichen Wehen-Schmerzen ins Krankenhaus ging. Man bedrängte sie, vor der Behandlung einen Vertrag als Selbstzahlerin zu unterschreiben und drohte mit der Polizei. Die Studentin setzte sich für sie ein, blieb bei ihr. Per Not-Kaiserschnitt kam die kleine Tochter zur Welt. Es hat die Helferin sehr erschüttert, was die Roma-Mutter zu ihr sagte: "Jetzt werden alle denken, dass Du eine von uns bist. Ich muss mich bei dir entschuldigen".