Reding: "Freizügigkeit steht nicht zur Debatte"
30. September 2013Deutsche Welle: Der Fortschrittsbericht der Europäischen Kommission über die Integration der Roma in den EU-Mitgliedsstaaten vom Juni 2013 ist so vernichtend ausgefallen, dass er in den deutschen Medien als "Stagnationsbericht" bezeichnet wurde. Worin liegen die Hauptursachen?
Viviane Reding: Wir sollten uns daran erinnern, was der Ausgangspunkt war: keine Koordination für die Integration der Roma auf europäischer Ebene. Die Kommission hat einen mühevollen, aber notwendigen Prozess angefangen. Und der Druck hat gewirkt, denn wir haben die Mitgliedsstaaten dazu gebracht, nationale Roma-Integrationsstrategien zu entwickeln, die die Kommission einmal im Jahr bewertet. So wird zumindest öffentlich gemacht, welches Land seine Hausaufgaben macht und welches nicht.
Und wir sehen auch erste Fortschritte: Zahlreiche Mitgliedsstaaten korrdinieren ihre Bemühungen zur Integration der Roma nun besser. Allerdings bleibt noch vieles zu tun: So könnten zum Beispiel zivilgesellschaftliche Organisationen besser eingebunden werden. Die Investition in die Ausbildung von Roma ist eine Investition in die Zukunft: Nur wenn diese Menschen Arbeit haben, können sie zur wirtschaftlichen Entwicklung des Landes beitragen, Steuern und Sozialbeiträge zahlen und Renten finanzieren.
Erwähnt werden aber auch positive Beispiele, wie zum Beispiel der regionale Aktionsplan des Bundeslandes Berlin zur Integration der zugewanderten Roma oder die Reservierung von 15.000 Studienplätzen für Roma an rumänischen Universitäten. Gibt es weitere positive Beispiele?
Ja, in verschiedenen Mitgliedsstaaten, und ich will hier nur einige herausstellen: In Frankreich zum Beispiel funktioniert die Zusammenarbeit zwischen den nationalen Behörden und lokalen Akteuren sehr gut, und in Bulgarien werden EU-Mittel nun gezielter eingesetzt. Ungarn hat ein solides System zur Überwachung der Umsetzung seiner nationalen Strategie konzipiert, und Spanien hat 158 Polizeikräfte zum Thema ethnische Diskriminierung fortgebildet. Solche Beispiele sind ermutigend, aber sie bleiben leider viel zu oft nur vereinzelte Ausnahmen. Gerade deshalb sind die nationalen Integrationsstrategien und ihre Umsetzung so wichtig.
In Deutschland ist vielfach das Argument zu hören, man könne die Zuwanderung der Roma nach Deutschland stoppen, wenn die Bedingungen in deren Herkunftsländern verbessert werden. Für wie realistisch halten Sie dieses Argument?
Die Freizügigkeit in der Europäischen Union ist ein hohes Gut und ein Recht, das für alle EU-Bürger gilt - auch für Angehörige ethnischer Minderheiten. Die Zuwanderung ist eine Chance für Deutschland und für Europa - da stimme ich der deutschen Arbeitsministerin Ursula von der Leyen vollkommen zu. Die Zuwanderung aus einem EU-Land in ein anderes stoppen zu wollen, wäre also eine wirtschaftlich verfehlte Politik und außerdem mit EU-Recht unvereinbar.
Gleichzeitig ist auch klar, dass die Mitgliedsstaaten mehr tun müssen, um sozial Schwächere zu integrieren, und speziell die Zukunftschancen der Roma zu verbessern. Sie müssen dafür sorgen, dass allen eine gute Ausbildung und der Zugang zum Arbeitsmarkt offenstehen. Die EU unterstützt die Bemühungen der Mitgliedsstaaten zum Beispiel mit Mitteln aus dem EU-Sozialfonds. Und die Mitgliedsstaaten müssen Diskriminierung und Ausgrenzung der Roma entschiedener bekämpfen.
Die Bundesregierung hat neulich ein hartes Vorgehen gegen Armutseinwanderer aus Rumänien und Bulgarien angekündigt. Wer Sozialleistungen missbrauche, werde künftig ausgewiesen und mit Einreiseverbot belegt, hatte Bundesinnenminister Hans-Peter Friedrich (CSU) gesagt. Wie bewerten Sie die Ankündigung des deutschen Innenministers?
Lassen Sie es mich in aller Deutlichkeit sagen: Die Freizügigkeit ist ein Grundrecht und steht zu keinem Zeitpunkt zur Debatte. Auch sprachlich sollten wir daran keinen Zweifel lassen: Europäische Bürgerinnen und Bürger, die ihr Recht auf Freizügigkeit wahrnehmen, sind keine "Ein- oder Zuwanderer". Alle europäischen Bürger haben dieselben Rechte. Roma sind ebenfalls EU-Bürger und haben als solche selbstverständlich auch das Recht auf Freizügigkeit.
Mit populistischer Rhetorik scheint man heute Wählerstimmen gewinnen zu können, doch den Preis dafür würden spätere Generationen europäischer Bürgerinnen und Bürger zahlen. Und sie entspricht auch nicht den Werten Europas, zu denen die Achtung der Menschenwürde ebenso zählt wie die Rechte der Minderheiten. Deshalb erwarte ich von den führenden Politikern in den Mitgliedsstaaten, dass sie sich einem solchen Populismus widersetzen. Ich meinerseits werde mich weiter für das Grundrecht der Freizügigkeit einsetzen. Mitgliedsstaaten sollten ihre nationalen Gesetze nutzen, um wirksam gegen Sozialgeld-Betrüger - egal welcher Nationalität - vorzugehen. Es gibt also keinen Grund, an der Freizügigkeit zu rütteln.
Roma werden immer wieder Opfer von rassistischer Gewalt, auch in den EU-Ländern. Verfügt die EU-Kommission überhaupt über Druckmittel, um ihre Mitgliedsstaaten dazu zu bringen, die Rechte der Roma mehr zu achten?
Laut der Richtlinie zur Gleichbehandlung ohne Unterschied der Rasse ist Diskriminierung aufgrund der Rasse oder der ethnischen Herkunft im Arbeitsleben ebenso wie bei der Bildung, bei der sozialen Sicherheit und dem Zugang zu Gütern und Dienstleistungen einschließlich Wohnraum verboten. Alle EU-Staaten haben diese Richtlinie - auf Druck der Kommission - inzwischen in ihr nationales Recht umgesetzt. Die Rechtsvorschriften sind also vorhanden, und die Mitgliedsstaaten sind verpflichtet, diese auch anzuwenden. Darüber sollten die nationalen Behörden und die nationalen Gerichte wachen.
Doch neben Rechtsvorschriften setze ich vor allem darauf, den Mitgliedsstaaten konkrete Unterstützung an die Hand zu geben. Mit dem Fortschrittsbericht haben wir den Mitgliedsstaaten erstmals gezielt dabei geholfen, ihre Bemühungen zu verstärken. Initiativen, die den Roma helfen sollen, müssen auf lokaler Ebene stattfinden, verschiedene Länder müssen zusammenarbeiten, und es muss dringend gehandelt werden, um die Lage der jungen Roma zu verbessern.
Viviane Reding aus Luxemburg ist Vizepräsidentin der EU-Kommission und EU-Justizkommissarin. Bevor sie Mitglied der Kommission wurde, gehörte Reding mehrere Jahre lang dem Europäischen Parlament an. 2010 warf Reding als Justizkommissarin Frankreich vor, die Abschiebung von Roma nur aufgrund von deren Zugehörigkeit zu einer ethnischen Minderheit zu betreiben. Dabei sprach sie sich für die Einleitung eines Vertragsverletzungsverfahrens gegen Frankreich aus.
Das Gespräch führte Verica Spasovska.