Das Tribunal, der Tod und eine schmerzliche Wahrheit
30. November 2017Auch am Tag danach ist das Urteil des Haager Tribunals gegen sechs ehemalige Anführer der bosnischen Kroaten währen des Bosnienkrieges Anfang der 1990er Jahre die Hauptnachricht in Kroatien - der spektakuläre Selbstmord von Slobodan Praljak vor laufenden Kameras ohnehin. Das Land befindet sich in einer Art Ausnahmezustand.
Das kroatische Parlament Sabor hielt heute eine Schweigeminute für den ehemaligen General - und in den Haag rechtskräftig verurteilten Kriegsverbrecher - Praljak. Das Urteil sei ungerecht und ignoriere die historische Wahrheit, sagten einige Abgeordnete im Plenum; Praljak sei für sein Volk gestorben. Ein Abgeordneter, der sagte, durch das Haager Tribunal sei endlich ans Tageslicht gekommen, worüber man in Kroatien zu lange geschwiegen hätte, wurde direkt bedroht: "Gestern haben drei Leute bei mir angerufen, als du dich darüber gefreut hast, nachdem Praljak Gift genommen hat. Hätten sie mich erreicht, wärst du heute nicht hier." Einem anderen Abgeordneten, der an der Schweigeminute für einen verurteilten Kriegsverbrechen nicht teilnehmen wollte, wurde in den sozialen Medien angekündigt, auf ihn warteten "sieben Patronen".
Kroatien als Aggressor
Gesprächsthema in Kroatien ist aber weniger die Frage, ob man Praljak achten oder doch lieber ächten soll, sondern vor allem der Teil des Urteils, in dem der damaligen kroatischen Führung um den ersten Präsidenten Franjo Tudjman ein Teil der Verantwortung für den Krieg in Bosnien-Herzegowina gegeben wurde. Die Richter waren der Meinung, dass die "sechs Angeklagten gemeinsam mit den damaligen führenden Politikern aus Kroatien die Schlüsselfiguren in dem gemeinsamen kriminellen Unternehmen waren mit dem Ziel, bestimmte Gebiete von bosnischen Muslimen ethnisch zu säubern, und zwar durch gezieltes Verüben der Verbrechen gegen die Menschlichkeit, durch schwere Verstöße gegen die Genfer Konvention sowie durch andere Kriegsverbrechen."
Damit, so die allgemeine Lesart, werde Kroatien als Aggressor im Bosnienkrieg gebrandmarkt und der Gründungspräsident des unabhängigen Kroatien als Kriegsverbrecher dargestellt. Ihn hätte nur der Tod von einer Anklage vor dem Tribunal gerettet. Für Kroaten besonders schmerzhaft und empörend dabei: In allen bisherigen Verfahren gegen hohe politische und militärische Anführer der Serben hatte das Tribunal kein solches gemeinsames kriminelles Unternehmen feststellen können.
So wird in fast allen Reaktionen in Kroatien einerseits der Freitod eines der Verurteilten als eine "heroische" und "heldenhafte" Tat dargestellt, die von "einer tiefen moralischen Ungerechtigkeit gegenüber sechs Kroaten aus Bosnien und Kroatien" zeugt, wie das der kroatische Regierungschef Andrej Plenković formulierte. Andererseits wird man nicht müde zu betonen, dass "wir unzufrieden sind und das Urteil bedauern", so Plenković. Er stellte auch klar: "Das Urteil ist unbegründet und ungerecht, kollidiert mit den Fakten und ist als solches für Kroatien inakzeptabel. Wir werden alle rechtliche Mittel einsetzen, um es anzufechten. "
Zwei Gesichter Kroatiens
Ähnlich äußerte sich auch die kroatische Präsidentin Kolinda Grabar-Kitarović. Sie hatte eine Auslandsreise abgebrochen, um schnell zu Hause zu sein. Auf einer Pressekonferenz in Zagreb stellte sie fest: "Kroatien war kein Aggressor, sondern hat vielmehr sehr viel dazu beigetragen, dass Bosnien-Herzegowina als Staat überlebt. Kroatien hat niemanden angegriffen."
Genau das ist der Teil des Urteils, der unter den Bosniaken in Bosnien-Herzegowina mit besonderer Aufmerksamkeit aufgenommen wurde. Denn die muslimischen Bosniaken pflegen von Anfang an ein Bild von sich als Opfern der Aggression zweier größerer Nachbarn: Serbiens und Kroatiens. So sagte Bakir Izetbegović, bosniakischer Mitglied des gemeinsamen bosnisch-herzegowinischen Präsidiums, dass durch das Urteil "die dunkle Seite der Wahrheit über den Krieg in Teilen Bosniens-Herzegowina sowie über die Ziele eines Teils der kroatischen Führung während des Krieges" sichtbar geworden ist. Kroatische Politik, so Izetbegović, hätte damals zwei Gesichter gehabt; eines dieser Gesichter hätte den Muslimen furchtbares Leid gebracht und die bosnische Kroaten zu Verlierern gemacht. Es gäbe aber auch ein anderes, helles Gesicht, und das hat "sich um viele geflüchtete Bosniaken gekümmert und geholfen, dass der Krieg beendet wird". Man soll die Vergangenheit nun hinter sich lassen, "mit der hellen Seite der kroatischen Politik zusammenarbeiten" und in die Zukunft blicken, betont Izetbegović.
Weniger poetisch drückt man sich in den sozialen Medien in Bosnien-Herzegowina aus. Von einer "bitteren Wahrheit" ist da die Rede und von dem "gerechten Urteil des Haager Tribunals". Manchmal scheine es leichter, mit dem Verbrechen zu leben als mit der Wahrheit, schrieb eine Frau in ihrem Facebook-Kommentar zum Tod von Slobodan Praljak. Insgesamt aber will man nach vorne schauen: "Das war kein Urteil gegen das kroatische Volk, sondern gegen einige Einzelpersonen. Das könnte der erste Schritt sein, um das Vertrauen und das gegenseitige Verständnis zwischen den Menschen und zwischen den Volksgruppen in Bosnien-Herzegowina wieder aufzubauen", sagte der ehemalige bosnische Richter Vehid Šehić.
Endlich einmal nicht am Pranger
Und wie das in Bezug auf das Haager Tribunal in der Regel der Fall ist: Während in Kroatien die Haager Richter als ungerecht, inkompetent und als Marionetten dargestellt werden, übt man sich in Serbien, wo man ansonsten kein gutes Wort für das Tribunal hat, in vermeintlicher Objektivität. Die Medien zitieren den Text der Urteilsbegründung am liebsten ohne Kommentar. Nur gelegentlich schimmert die Häme durch. So betitelt das Online Portal "Večernje Novosti" seinen Bericht genüsslich mit "Tudjman ist ein Verbrecher! Kroatien ist Aggressor!"