Der Aufstieg und Fall des Clemens Tönnies
30. Juni 2020Als Bernd Tönnies 1971 ein Unternehmen für Fleisch- und Wursthandel in dem kleinen Städtchen Rheda bei Gütersloh gründet, ist sein jüngerer Bruder Clemens gerade einmal 15 Jahre alt. In Deutschland ist Willy Brandt Kanzler, Fußball-Bundesligist Schalke 04 Tabellenführer und Fleisch und Wurst gibt es beim Metzger um die Ecke.
Clemens Tönnies, dem Vater Klemens zur besseren Unterscheidung ein "C" im Vornamen verpasst, macht zwar gerade eine Ausbildung zum Metzger, doch im Gegensatz zu seinem älteren Bruder hat er andere Pläne: er will "lieber Radio- und Fernsehtechniker werden, als in der blöden Wurstküche herumzustehen".
Ein knappes halbes Jahrhundert später ist Clemens Tönnies, den viele nur "Fleischbaron", "Kotelett-Kaiser" oder "König der Schweine" nennen, Milliardär und Europas größter Fleischfabrikant. Die Tönnies Holding hat 28 Fabriken, auch in Dänemark, Polen und Frankreich, beliefert in 82 Länder und feiert im Vorjahr einen Umsatz von sagenhaften sieben Milliarden Euro. Vom kleinen Familienbetrieb zum Marktführer - eine Erfolgsgeschichte wie aus dem Bilderbuch.
Corona-Krise legt "System Tönnies" offen
Clemens Tönnies ist ganz oben angekommen: Der Vorsitzende des Schützenvereins von Rheda ist jetzt Aufsichtsratsvorsitzender des Fußball-Bundesligisten FC Schalke 04. Wo sein Vater in den 1960er Jahren in der Altstadt von Rheda jeden Tag ein Schwein schlachtet, braucht er heute dafür gerade einmal 30 Sekunden. Und statt mit Lokalgrößen aus Ostwestfalen trifft er sich jetzt mit dem russischen Präsidenten Wladimir Putin und Altkanzler Gerhard Schröder.
Und dann kommt die Corona-Krise. Und all‘ das, was seit Jahren eigentlich jeder über das "System Tönnies" weiß, seien es Politiker, Supermärkte und Verbraucher, die schon sklavenartige Ausbeutung osteuropäischer Arbeitskräfte, das perfide System der Werkverträge mit Subunternehmen oder die katastrophalen hygienischen Zustände in den Sammelunterkünften, schwappt durch die Pandemie an die Oberfläche. Ganz zu schweigen von den Tieren: nur jedes 50. Tier wird bei Tönnies unter besseren Bedingungen gehalten als es die Mindestanforderungen fordern.
Versprechen auf dem Sterbebett
Der Ursprung des Geschäftsmodells, das für viele wie kein anderes für die maximale Ausbeutung aller Ressourcen steht, beginnt nach der Wende. Bruder Bernd übernimmt 1990 den VEB Schlacht- und Verarbeitungsbetrieb Weißenfels in Sachsen-Anhalt. Es ist der erste Vertrag, den die Treuhand schließt, heute werden im Osten Deutschlands jeden Tag 20.000 Schweine geschlachtet.
Vier Jahre später stirbt der gerade einmal 42 Jahre alte Bruder, der Monate zuvor zum neuen Präsidenten von Schalke 04 gewählt wurde, an den Folgen einer Lungeninfektion nach einer Nierentransplantation. Kurz vor seinem Tod soll er Clemens angefleht haben, sich fortan um die Königsblauen zu kümmern.
Was Bernd Tönnies aber auf dem Sterbebett seinem jüngeren Bruder in Bezug auf die Firma sagt, darüber werden jahrelang juristisch die Messer gewetzt: Laut Clemens wurde ihm die Hälfte des Unternehmens versprochen, sein Neffe Robert pocht dagegen auf seine 60-prozentige Mehrheit.
Schriftlich wird das Sterbebettversprechen jedenfalls nicht festgehalten, "in unserer Branche gilt der Handschlag", verkündet Clemens Tönnies stolz vor Gericht. Es ist ein Geschäftsgebaren, mit dem der Vater von zwei Kindern auch bei einigen Politikern sehr gut ankommt.
"Männerfreundschaft" mit Putin
Wladimir Putin zum Beispiel. Seit 2007 verbindet Tönnies mit dem russischen Präsidenten eine "Männerfreundschaft", wie es der deutsche Unternehmer ausdrückt. Zusammen fädeln die Freunde den millionenschweren Gazprom-Deal ein: Auf den Trikots von Schalke prangt fortan das Logo des halbstaatlichen russischen Energieriesen, für den Kremlchef und das Erdgasunternehmen die perfekte Außenwerbung.
Bei jedem Treffen in Moskau darf sich Putin aber nicht nur über das neueste Trikot der Königsblauen freuen, sondern auch über ein Eisbein, das der Chef höchstpersönlich zubereitet. "Wo sind die gepökelten Eisbeine?", sei immer das Erste, wonach Putin frage, so Tönnies.
Bei der Schweinshaxe bleibt es nicht. Schließlich habe er dem russischen Präsidenten, wahrscheinlich per Handschlag, versprochen, nicht nur Fleisch ins Land zu bringen, sondern auch in Russland selbst zu produzieren.
Über sein Tochterunternehmen "Don" betreibt Tönnies mehrere Schlachthöfe nördlich von Moskau, in Woronesch und Belgorod. Nach Angaben des russischen Nationalen Verbandes der Schweinezüchter (NSS) gehört "Don" zu den zehn größten Schweinefleischproduzenten in Russland.
Fleischexport ins Reich der Mitte
Doch nicht nur in Russland ist Tönnies unterwegs, längst hat das Unternehmen auch den chinesischen Markt im Visier. Denn der ist in den vergangenen Jahren exorbitant gewachsen. Allein im ersten Quartal dieses Jahres importiert China fast eine Million Tonnen Schweinefleisch, ein sattes Plus von 70 Prozent im Vergleich zum Vorjahreszeitraum. Die deutsche Jahresproduktion von Schweinefleisch beträgt 5,2 Millionen Tonnen.
Einer der Gründe ist die Afrikanische Schweinepest, die in China - das Land mit dem größten Bestand an Schweinen weltweit - seit bald zwei Jahren grassiert. Millionen von Tieren müssen getötet werden. Um den Bedarf der Chinesen nach Schweinefleisch zu stillen, wird massiv importiert. Für Tönnies ein gutes Geschäft, dass dem Unternehmen im vergangenen Jahr einen deutlichen Umsatzsprung beschert hat auf 7,3 Milliarden Euro - ein Plus von knapp zehn Prozent.
Mehr noch: Tönnies ergreift die Gelegenheit beim Schopf und investiert 500 Millionen Euro für einen neuen Schlachthof mit dem chinesischen Partner Dekang aus der zentralchinesischen Provinz Sichuan, der die gleiche Summe beisteuert. Damit entsteht der erste Tönnies-Hof außerhalb Europas. Jährlich sollen dort sechs Millionen Schweine geschlachtet werden. Ein lohnendes Geschäft, denn viele Schweinefleisch-Produkte sind in China teurer als in deutschen Supermärkten.
Rassistische Entgleisung beim Tag des Handwerks
Clemens Tönnies hat jahrzehntelang den richtigen Riecher: Er revolutioniert den Fleischkauf in den Supermärkten, wo Kunden lieber zum abgepackten und kostengünstigeren Schnitzel aus der Kühlbox greifen statt zum lokalen Metzger zu gehen.
Er weiß, dass die großen deutschen Discounter lieber einen zentralen Ansprechpartner haben, der ihnen die Wurst auch noch schnell und zuverlässig in den entferntesten Zipfel Deutschlands liefert. Und er ist so kreativ, jahrelang den Blutverdünner Heparin aus den Darmschleimhäuten der Schweine zu gewinnen.
Der Fall von Clemens Tönnies wird durch Corona beschleunigt, seinen Anfang nimmt er bereits im Juli letzten Jahres: Beim Tag des Handwerks in Paderborn wird der passionierte Großwildjäger vor 1600 Zuhörern zu seinem Modell für die Bewältigung der Klimakrise befragt. Man möge, sagt der Fleischfabrikant, Afrika jedes Jahr 20 Kraftwerke hinstellen, "dann hören die auf, die Bäume zu fällen, und sie hören auf, wenn's dunkel ist, wenn wir die nämlich elektrifizieren, Kinder zu produzieren."
Seine rassistische Entgleisung kann Clemens Tönnies noch aussitzen, indem er kurz darauf das Amt des Aufsichtsratsvorsitzenden bei Schalke für drei Monate ruhen lässt. Einen Corona-Ausbruch in den eigenen Fabriken mit mehr als 1500 Infizierten und einem Lockdown in der Region auszusitzen, funktioniert jetzt nicht mehr.
Mitarbeit: Henrik Böhme, Marina Baranovska, Hao Gui