Der fast vergessene Weltkrieg
4. März 2014"I am connected because..." Was sie mit dem Ersten Weltkrieg verbindet, erzählen auf der Website des Londoner Imperial War Museums Dan und Elana, Emily und Hugh, Briten aller Altersgruppen: Es ist der Großvater, der an seinem ersten Tag an der Front die Leichen vom Schlachtfeld zerren und begraben musste. Oder der Urgroßvater, Militärarzt, von Heckenschützen erschossen. Die Mutter, deren Verlobter starb. In einem Video, das um Spenden für die große Weltkriegs-Ausstellung im Sommer wirbt, schildern Kinder, Enkel und Urenkel die Schrecken des Ersten Weltkrieges, der hier tief im Familiengedächtnis verwurzelt ist. Vielen Deutschen dagegen fällt es schwer, diesen Bogen zu schlagen. Denn in Deutschland steht eine andere Frage im Vordergrund: War Opa Nazi?
Täter, Opfer, Mitläufer?
Wie Opa oder Oma, Mutter oder Vater in den Nationalsozialismus verstrickt, ob sie Täter, Opfer oder Mitläufer waren, das wollen viele Kinder und Enkel in Deutschland wissen. Wie sehr es Menschen aus der Bahn werfen kann, wenn sie ihre Wurzeln nicht kennen, zeigt die Geschichte von Jennifer Teege. Das Leben der Tochter einer Deutschen und eines Nigerianers wurde völlig umgekrempelt, als sie per Zufall erfuhr, dass ihr Großvater der aus dem Film Schindlers Liste bekannte sadistische KZ-Kommandant Amon Göth war.
Was hat Jennifer Teeges Geschichte mit dem Ersten Weltkrieg zu tun? Sie zeigt, warum er in der kollektiven Erinnerung in den Hintergrund gerückt ist. Er ist verdeckt worden von den noch größeren Schrecken, die mit Nationalsozialismus, Zweitem Weltkrieg, Holocaust und Kaltem Krieg folgten. Und die von Deutschland ausgingen.
Deutsche Geschichte voller Brüche
Denn anders als in England oder Frankreich, deren (demokratische) politische Systeme im 20. Jahrhundert weitgehend stabil waren, ist die deutsche Geschichte voller Brüche. Seit 1914 gab es fünf völlig verschiedene Systeme: das Kaiserreich, die Weimarer Republik und die nationalsozialistische Diktatur, dann mit BRD und DDR zwei deutsche Staaten, die sich in feindlichen Blöcken gegenüber standen. Das wiedervereinigte Deutschland gibt es erst seit 25 Jahren. Es ist eine vergleichsweise junge Demokratie.
Ähnlich einschneidende Veränderungen hat kein anderes westeuropäisches Land erfahren. Wohl aber viele östliche Nachbarn Deutschlands, wie Polen, Russland und die Länder auf dem Balkan. Der Politikwissenschaftler Herfried Münkler spricht im DW-Interview deshalb von einem "West-Ost-Gefälle der Erinnerungskultur" in Europa.
Anders als Belgier oder Franzosen haben die Deutschen den Ersten Weltkrieg auch nicht so unmittelbar im eigenen Land erlebt. Viele Menschen im Kaiserreich erreichte er nur in Form nüchterner Todesnachrichten und zensierter Feldpostkarten. Die Schrecken der Bombennächte und die Evakuierungen im Zweiten Weltkrieg haben die Erinnerung an die Schützengräben und Schlachtfelder des Ersten Weltkrieges verdrängt.
Ursachenforschung statt Kriegsschuldfrage
Dennoch gibt es auch in Deutschland vielerorts Kriegerdenkmale oder Veteranenvereine, die an die Toten des ersten großen Krieges erinnern. Seit über einem halben Jahrhundert sind deutsche Wissenschaftler intensiv mit der Aufarbeitung des Ersten Weltkrieges beschäftigt. Es war der Hamburger Historiker Fritz Fischer, der in den 1960er Jahren die These von der Hauptschuld der Deutschen am Ausbruch des Ersten Weltkrieges untermauerte und damit eine anhaltende internationale Diskussion auslöste, die sogenannte Fischer-Kontroverse.
Zum Auftakt des Gedenkjahres 2014 sind nun zahlreiche neue Publikationen erschienen. Die Frage nach der Kriegsschuld ist dabei in den Hintergrund getreten. Denn sie eindeutig zu beantworten, ist wegen der Vielzahl von Quellen und Perspektiven kaum möglich. Stattdessen steht die Ursachenforschung im Mittelpunkt. Zum Beispiel in Christopher Clarks "Die Schlafwandler", in dem der australische Historiker den Krieg als "vermeidbares Ergebnis einer dichten Folge von Ereignissen und Entscheidungen" analysiert. Detailliert beschreibt auch "Der große Krieg" von Herfried Münkler das Zeitpanorama der Weltkriegsjahre und zeigt auf, was Politiker heute daraus lernen können. Zum Beispiel, dafür zu sorgen, dass regionale Konflikte nicht zu Flächenbränden werden.
Junge Menschen wollen mehr wissen
Je näher das Gedenkjahr rückte, desto größer wurde in den letzten Monaten auch das öffentliche Interesse. Eine aktuelle Umfrage zeigt, dass junge Menschen in Deutschland mehr über den Ersten Weltkrieg erfahren wollen, als sie in der Schule lernen. In zahlreichen Veranstaltungen geht es um die vielen Facetten des Krieges, zum Beispiel in der Ausstellung "Die Avantgarden im Kampf" in der Bundeskunsthalle. Zeitungen, Zeitschriften und Onlineseiten präsentieren Quellen und Schicksale. Die spannendsten Initiativen gehen dabei über die nationalen Perspektiven hinaus. Zum Beispiel die Website europeana 1914 - 1918, eine Plattform in elf Sprachen, die Dokumente und private Erinnerungen aus ganz Europa sammelt. Oder der European Film Gateway, der seit 2012 europaweit historisches Filmmaterial aus dem Ersten Weltkrieg online zur Verfügung stellt.
Eines aber fällt auf: Was große nationale Gedenkveranstaltungen zum Kriegsausbruch vor 100 Jahren betrifft, ist das offizielle Deutschland bislang eher zurückhaltend. Hierzulande taugt der Erste Weltkrieg nicht zur nationalen Mythenbildung - und erst recht nicht zum Feiern.
Die vielen Veröffentlichungen und Projekte sind es, die dazu beitragen, aus den Puzzlestücken der einzelnen nationalen Perspektiven ein internationales Panorama des Ersten Weltkrieges zusammenzusetzen. Denn wie dem Astronauten, der die Erde erst aus einiger Entfernung im Ganzen sehen kann, geht es auch Historikern. Erst mit genügendem Abstand werden die Wechselwirkungen und Zusammenhänge klar zu erkennen sein.