Der europäische Antisemitismus ist ein nationaler
8. Juni 2005
DW-WORLD: Vor einem Jahr ging in Berlin die OSZE-Konferenz gegen Antisemitismus mit einer Verpflichtung zum Kampf gegen antijüdische Hetze und Intoleranz zu Ende. Ist eine solche Selbstverpflichtung mehr als eine Selbstverständlichkeit?
Wolfgang Benz: Wenn es eine Selbstverständlichkeit wäre, gäbe es keinen Antisemitismus. Die OSZE umfasst ja ziemlich viele Staaten, darunter auch solche mit einer anderen Tradition, in denen etwa Judenfeindlichkeit nicht wie bei uns kriminalisiert oder von vorneherein verpönt ist. So ist es durchaus sinnvoll, sich auf hoher Ebene darüber zu verständigen, was mit unserer Kulturauffassung vereinbar ist und was nicht.
In Cordoba soll nun auch über die Rolle der Medien in diesem Kampf diskutiert werden. Wie gut ist Deutschland hier aufgestellt?
Ich glaube sehr gut, manchmal fast zu gut. Wenn etwa vor lauter Alarmbereitschaft eine demoskopische Umfrage, nach der 20 Prozent der Deutschen in ihrem Weltbild auch antisemitische Einstellungen herumschleppen, mit den Worten kommentiert wird: "Jeder fünfte Deutsche ist Antisemit", ist das eher ein zuviel des Guten. Da wäre mir eine differenzierte Betrachtung lieber als diese Neigung, sofort Alarm zu schlagen, weil dies allenfalls abstumpfend wirkt.
Mit Welchen Strategien kann man einer solchen Abstumpfung begegnen?
Mit Information: mit nüchterner, sachlicher, zweckgerichteter Information. Aber nicht mit immerwährendem Alarmgeschrei, wie es manchen Leuten locker in der Kehle sitzt.
Nun gibt es auch Stimmen, die den Medien eine Mitschuld an der Verbreitung antisemitischer Vorurteile geben. Stimmen Sie dieser Kritik zu?
Dem würde ich nicht zustimmen. Im gegenwärtigen Deutschland kann man diesen Vorwurf allenfalls ein paar unappetitlichen Blättern, etwa der "Deutschen Stimme" der NPD oder der "Nationalzeitung" des Münchner Verlegers Gerhard Frey (DVU) machen. Keineswegs kann man diesen Vorwurf jedoch pauschalisieren. Ein ganz wesentlicher Unterschied zur Zeit vor 1933 ist, dass die demokratischen Medien heute geschlossen gegen Antisemitismus sind.
"Holocaust Education" heißt ein anderer Programmpunkt in Cordoba. Liegt in der Vermittlung vom Wissen über die Shoah der Schlüssel im Kampf gegen Antisemitismus?
Ich fürchte nein. Sicherlich spielt dieses Wissen eine Rolle und kann für die Demokratieerziehung genutzt werden. Der Holocaust ist ja schließlich ein Exempel, das zeigt, wo Intoleranz in Form von auf die Spitze getriebenem Antisemitismus enden kann. Aber es zum ausschließlichen Dreh- und Angelpunkt zu machen, halte ich nicht für sinnvoll. Wir müssen jungen Leuten heute Toleranz auf andere Weise nahe bringen als nur mit dem Hinweis auf den Völkermord an den Juden. Von dem sagen sie ja: "Das war aber vor 60 Jahren, das geht uns gar nicht an." Wir müssen in der Lage sein, Toleranz als ein hohes demokratisches Gut begreiflich zu machen, ohne nur auf historische Beispiele für Intoleranz zurückzugreifen.
Bei seinem jüngsten Besuch in Deutschland sprach Israels Staatspräsident Mosche Katzav davon, die "Welle des wiederauflebenden Antisemitismus sei so stark wie seit dem Krieg nicht mehr". Stimmen Sie als Empiriker diesem Befund zu?
Nein. Es ist das Recht und die Pflicht eines Politikers, eine Gefahr drastisch zu beschreiben. Aber dass es jetzt eine Welle von nie vorher gekannter Größenordnung gebe, das kann ich nicht nachvollziehen.
Gibt es verschiedene Formen von Antisemitismus?
Nein. Es gibt nur einen Antisemitismus und das ist die Judenfeindschaft. Man kann aber verschiedene Ausprägungen unterscheiden. Es gibt den christlich strukturierten, also den klassischen Antijudaismus und den rassistisch argumentierenden Antisemitismus, von dem auch der Begriff ursprünglich stammt. Dann gibt es einen sekundären Antisemitismus, der sich nach dem Holocaust an Entschädigungsleistungen, an Schuld- und Schamgefühlen festmacht. Und schließlich unterscheiden wir noch den Antizionismus, die Judenfeindschaft, die sich auf den Staat Israel richtet und in Vernichtungswünschen gipfelt.
Ist der sekundäre Antisemitismus in Deutschland am häufigsten vertreten?
Die Formen amalgamieren sich sehr stark, so dass man sie nicht genau unterscheiden kann. Sicher ist der religiös motivierte Antijudaismus heute viel seltener als eine moderne Israelfeindschaft. Der sekundäre Antisemitismus, der sich in dem Murren, wie lange man denn noch zahlen müsse und ob den niemals Schluss sein werde, ist stärker verbreitet als der Rassenantisemitismus, der seinerzeit zum Völkermord geführt hat. In der Praxis arbeiten aber all diese Ideologien mit ähnlichen Stereotypen, Gerüchten und Legenden, so dass sich die einzelnen Anteile schlecht trennen lassen.
Ist nach der EU-Erweiterung schon eine gesamteuropäische Diagnose möglich? Gibt es eine Verschiebung antisemitischer Ressentiments?
Dazu kann man noch gar nichts sagen. Antisemitismus äußert sich ja zunächst und vor allem als nationale Angelegenheit. Der polnische Antisemitismus ist viel religiöser gefärbt als der säkulare französische, der mehr rassistisch argumentiert. Es ist also in erster Linie ein rumänischer, ein ungarischer, ein polnischer Antisemitismus und nicht ein europäischer. Wie sich die Osterweiterung auf Mitteleuropa auswirken wird, steht noch abzuwarten. Dazu gibt es weder empirische Werte, noch die Möglichkeit einer Prognose.
Eine ewige Streitfrage lautet: Ist Kritik an Israel erlaubt und wenn ja, in welcher Form?
Das ist eigentlich sehr einfach. Wenn ich sage: "Ich missbillige die Politik der israelischen Regierung, weil sie nach meiner Meinung nicht zum Frieden führt", ist das eine legitime Kritik. Genauso wenn ich sage: "Ich missbillige die Politik der amerikanischen Regierung gegenüber dem Irak, weil das weder Frieden noch einen schuldigen Aggressor zur Strecke gebracht hat." Wenn ich dagegen sage: "Ich missbillige die Politik der Amerikaner", kommt damit zum Ausdruck, dass die Amerikaner ein Volk von verbrecherischen Schurken sind. Das gleiche gilt für eine derartige Kritik an Israel. Das ist Volksverhetzung, Vernichtungswunsch. Kritik an der Politik der Regierung dient nur als Vorwand für die Einstellung: "Die Juden sind immer die Störenfriede. Es wäre besser, es gäbe keinen israelischen Staat und keine Juden, dann wäre Ruhe und Frieden in der Welt." So dient Israelkritik nur als Vehikel für sehr tiefen Hass gegen die Juden.
Unter Globalisierungskritikern haben Verschwörungstheorien Hochkonjunktur. Sind die Globalisierungsgegner besonders anfällig für antijüdische Projektionen?
Ganz bestimmt, da klassischer Antisemitismus immer mit Verschwörungstheorien arbeitet. Der Topos der jüdischen Weltherrschaft, der jüdischen Weltverschwörung, des dominierenden jüdischen Einflusses auf die Weltfinanzen, wird in diesen Kreisen unter der Chiffre "Ostküste" verbreitet.
Was erwarten Sie sich von dem Treffen in Cordoba?
Von der Cordoba-Konferenz sind so wenig unmittelbare Taten zu erwarten wie von der Berliner Konferenz. Die Tatsache aber, dass auf hoher Ebene immer wieder Verabredungen getroffen und bekräftigt werden, um diese barbarische Ausgrenzung, die Stigmatisierung einer Minderheit überwinden zu wollen: Dass dies auf hohem Niveau geächtet wird, das ist der Sinn dieser Konferenz und daher ist es wichtig, auf dieser Ebene zu agieren.
Wolfgang Benz ist Leiter des Berliner Zentrums für Antisemitismusforschung