Der Giffey-Rücktritt und die SPD
19. Mai 2021"Frau Doktor" nennt sie sich schon seit einem halben Jahr nicht mehr. Im November 2020 gab Franziska Giffey bekannt, künftig auf das Führen des Titels freiwillig verzichten zu wollen. Da hatte die Freie Universität Berlin gerade angekündigt, Giffeys Doktorarbeit aus dem Jahr 2010 zum dritten Mal überprüfen zu wollen. Ein herber Schlag für die Sozialdemokratin. War sie doch bei einem früheren Verfahren noch mit einer Rüge der Hochschule davongekommen.
Nun liegt das Ergebnis der dritten Überprüfung vor. Offiziell ist es nicht bekannt, Giffey hat zunächst die Möglichkeit, Stellung zu nehmen. Im November 2020 hatte sie erklärt, im Fall einer Aberkennung ihres Doktortitels auf ihr Amt als Ministerin verzichten zu wollen. Dass sie nun vorzeitig zurücktritt, begründet die SPD-Politikerin damit, dass "die Mitglieder der Bundesregierung, meine Partei und die Öffentlichkeit schon jetzt Anspruch auf Klarheit und Verbindlichkeit" hätten.
"Bedauere, wenn mir Fehler unterlaufen sind"
"Ich stehe weiterhin zu meiner Aussage, dass ich meine Arbeit nach bestem Wissen und Gewissen geschrieben habe - so wie ich es vor zwölf Jahren für richtig gehalten und mit der wissenschaftlichen Begleitung meiner Arbeit durch eine Professur im Fachbereich Politikwissenschaft der Freien Universität Berlin abgestimmt habe. Ich bedauere, wenn mir dabei Fehler unterlaufen sind", schreibt Giffey in einer persönlichen Erklärung zu ihrem Rücktritt.
Von anderen abschreiben und den Text in einer Doktorarbeit als eigene wissenschaftliche Leistung ausgeben? Über Plagiatsaffären sind in Deutschland schon einige Politiker gestolpert und tief gefallen. Karl Theodor zu Guttenberg (CSU) beispielsweise trat 2011 als Bundesverteidigungsminister deswegen zurück und Annette Schavan (CDU) 2013 als Bundesbildungsministerin.
Retten, was politisch zu retten ist
Nun also Franziska Giffey. Die als außergewöhnliches politisches Talent und als Hoffnungsträgerin der SPD galt, seit ihr 2018 der Sprung von der Bezirksbürgermeisterin in Berlin-Neukölln ins Bundesfamilienministerin gelang. Sie beherrscht den öffentlichen Auftritt und schaffte es, sich mit ihrer zupackenden Art und den Themen Kinderbetreuung, Familienpolitik und Gleichberechtigung schnell einen Namen zu machen. Auch in der Corona-Pandemie, wo sie zu den besonnenen, aber nachdrücklichen Stimmen gehörte.
Allerdings hat die 43-Jährige nicht vor, sich vollständig aus der Politik zurückzuziehen. Sie will retten, was politisch noch zu retten ist. Giffey hat sich in den vergangenen Jahren ein zweites Standbein in der Berliner Landespolitik aufgebaut. Im Herbst 2020 hat sie sich zusammen mit dem SPD-Fraktionsvorsitzenden im Berliner Landesparlament Raed Saleh an die Spitze der Landes-SPD wählen lassen und tritt bei der Wahl zum Abgeordnetenhaus, die parallel zur Bundestagswahl am 26. September 2021 stattfindet, als Spitzenkandidatin an.
Die SPD liegt abgeschlagen hinter den Grünen
Franziska Giffey möchte Regierende Bürgermeisterin von Berlin werden und daran hält sie nach wie vor fest. Ob dieser Plan aufgeht? Für die SPD sieht es nicht gut aus. In der Hauptstadt führen sie eine Regierungskoalition mit der Linkspartei und den Grünen an, die Partei hat in den letzten Monaten aber immer weiter an Zustimmung verloren. Derzeit liegen die Grünen in Umfragen mit Abstand vorne.
Trotzdem scharen sich die SPD-Genossen nach dem Rücktritt eng um ihre Spitzenkandidatin. Co-Parteichef Raed Saleh attestiert ihr nach ihrem Rücktritt "höchste Ansprüche an politische Integrität" und freut sich, dass die Partei nun mit einer Spitzenkandidatin in die Wahl zum Abgeordnetenhaus gehe, "die sich mit ganzer Kraft auf ihre Herzenssache Berlin konzentriert".
Politiker müssen nicht Doktor sein
Giffeys Rücktritt beweise "Stil und Größe", betont die stellvertretende Vorsitzende der SPD-Bundestagsfraktion, Katja Mast. "Zum Glück bleibt sie der Politik erhalten." Gute Politik habe nichts mit einem Doktortitel zu tun. "Zuhören, anpacken, nah bei den Menschen sein und konkret Dinge verändern - all diese Qualitäten hängen nicht an einer akademischen Dissertation."
Ob die Wahlberechtigten das genauso sehen? In den sozialen Netzwerken ergießen sich Hohn und Spott über Franziska Giffey. Sie sei politisch verbrannt, zu beschädigt und nicht haltbar als SPD-Spitzenkandidatin in Berlin. "Da kann ihre berufliche Arbeit noch so gut sein, moralisch hat sie abgewirtschaftet", schreibt ein Berliner User. "Ich möchte mich nicht von einer überführten Betrügerin freiwillig regieren lassen, echt nicht!"
Konsequenzen für die SPD
Auch die politischen Gegner sparen nicht mit Kritik. "Sie ist nicht nur als Ministerin, sondern auch und erst recht als Regierende Bürgermeisterin von Berlin ungeeignet", erklärte die Berliner AfD-Landesvorsitzende Kristin Brinker. "Die deutsche Hauptstadt ist zu wichtig, um als Resterampe für gescheiterte Politikerexistenzen zu dienen."
Auch auf Bundesebene dürfte die Plagiatsaffäre nicht spurlos an der SPD vorübergehen. Für SPD-Kanzlerkandidat Olaf Scholz ist der Rücktritt Giffeys eine zusätzliche Bürde im Kampf gegen schlechte Umfragewerte und das daraus resultierende innerparteiliche Stimmungstief.
Bundesweite Belastung im Wahlkampf
In einer ersten Reaktion bedauerte er den Rücktritt und bescheinigte Giffey "eine riesige Erfolgsbilanz als Ministerin". Doch Scholz muss befürchten, dass die Plagiatsaffäre um Giffey mit dem Rücktritt nicht zu Ende ist. Sollte die Freie Universität Berlin ihr den Doktortitel tatsächlich entziehen, wird die Debatte ganz sicher wieder aufkochen.
Eine Diskussion, in der sich die SPD an ihren eigenen Maßstäben messen lassen muss. In den Plagiatsaffären um zu Guttenberg und Schavan hatten die Sozialdemokraten mit Kritik nicht gespart und die Rücktritte der Minister nachdrücklich begrüßt.
Wie Olaf Scholz mit diesem Dilemma umzugehen gedenkt, wird sich zeigen. Bereits an diesem Donnerstag ist ein gemeinsamer Wahlkampfauftritt von Scholz und Giffey geplant. Die beiden werden medienwirksam den EUREF-Campus besichtigen, einen Standort für Unternehmen aus den Bereichen Energie, Nachhaltigkeit und Mobilität. Aufmerksamkeit dürfte ihnen sicher sein. Aber eine andere, als von den Wahlkampfstrategen der SPD erhofft.