Der gute Schurkenstaat
11. Oktober 2004Einst galt er der westlichen Welt als finsterer Schurke, Diktator, Terrorist. Er war geächtet auf dem internationalen Parkett, eine persona non grata - eine Unperson. Inzwischen hat sich der libysche Revolutionsführer Muammar el Gaddafi zum respektierten Staatsmann gewandelt, vor dessen Palasttoren in Tripolis sich immer mehr westliche Regierungschefs einfinden. Der erste kam vor einem Jahr. Es war der damalige spanische Regierungschef, José María Aznar. Danach folgten der britische Premier Tony Blair und vergangene Woche der italienische Regierungschef Berlusconi. Am Donnerstag (15.10.2004) wird auch Bundeskanzler Gerhard Schröder nach Libyen reisen.
Gefügiger Dikatator
Die europäischen Staaten wissen um das große wirtschaftliche Potential des ölreichen Landes. Dass die 25 EU-Außenminister bei ihrem Treffen in Luxemburg am Montag (11.10) das Waffenembargo aufgehoben haben, hat nicht nur wirtschaftliche Gründe. Die Entscheidung ist auch eine Art Belohnung für Gaddafis Annäherungskurs an den Westen. Der Dikatator hat versprochen der Entwicklung von Massenvernichtungswaffen zu entsagen, kooperiert im "Krieg gegen den internationalen Terrorismus". Außerdem hat Libyen erste Entschädigungen an Angehörige der Opfer des Flugzeugattentats von Lockerbie 1988 sowie des Bombenanschlags auf die Berliner Disco "La Belle" gezahlt.
Die Aufhebung des Embargos macht zudem den Weg frei für die Lieferung von militärischer Ausrüstung. Vor allem Italien hatte darauf gedrängt. Es will Nachtsicht- und Radargeräte, Schnellboote und Hubschrauber an Libyen liefern. Italien erhofft sich so eine wirksamere Hilfe bei der Bekämpfung der illegalen Einwanderung. Jedes Jahr versuchen Tausende Einwanderer in kleinen Booten von Libyen aus über das Mittelmeer nach Süditalien zu gelangen.
Traditionell gute Wirtschaftsbeziehungen
Deutsche Wirtschaftsvertreter erhoffen sich von der Reise Schröders nach Libyen eine spürbare Belebung der Geschäfte. "Der Zeitpunkt ist günstig", sagt Walter Englert, Koordinator des deutsch-libyschen Wirtschaftsforums. Zwar sei das Handelsvolumen mit Libyen trotz Annäherungskurs bislang nicht wesentlich gestiegen. "Aber jetzt fließt spürbar mehr Geld von Seiten der libyschen Regierung", so Englert. Deutsche Unternehmen interessieren sich dabei vor allem für Projekte im Öl- und Gassektor, Gesundheitswesen, Tourismus, Wasserbau und Verkehrswesen.
Englert ist zuversichtlich, dass Deutschland auch künftig nach Italien zweitwichtigster Handelspartner mit Libyen bleibt. Im Ölgeschäft wird die Konkurrenz zwischen europäischer und amerikanischer Ölindustrie aber stark zunehmen. Die USA, ehemaliger Erzfeind Gaddafis, hob im April und September einen Großteil der Wirtschaftssanktionen gegen Libyen auf, damit die amerikanische Ölindustrie massiv im Wüstenstaat investieren kann.
Menschenrechtslage nach wie vor kritisch
Auch wenn Libyen in wirtschaftlicher Hinsicht glänzende Aussichten bietet. Tiefe Schatten werfen nach wie vor die Menschenrechtsverletzungen. Anita Hoch von der deutschen Sektion von Amnesty International sieht zwar einige positive Schritte zur Verbesserung der Menschenrechtslage. So durfte im Februar eine Delegation der Organisation ins Land reisen und mit hochrangigen Politikern, Häftlingen und deren Anwälten und Familienangehörigen sprechen. "Gaddafi hat aber Reformen wie die Abschaffung der Todesstrafe bislang immer nur vollmundig angekündigt. Umgesetzt wurden sie nicht", sagt Hoch. Folter oder willkürliche Verhaftungen seien nach wie vor gängige Praxis in Libyen. "Es fehlt an Rechtssicherheit und noch immer werden Menschen verhaftet, nur weil sie ihre kritische Meinung kundtun", bemängelt Hoch.
Großes öffentliches Aufsehen erregt der Fall von fünf bulgarischen Krankenschwestern, die 1999 verhaftet worden waren, weil sie angeblich 400 Kinder mit dem Aids-Virus infiziert haben. Die Schwestern behaupten, sie seien durch Folter zu Geständnissen gezwungen worden. Ihnen droht seit Mai die Todesstrafe. Hoch berichtet außerdem von zwei Hochschullehrern die vor zwei Jahren zum Tode verurteilt wurden, weil sie einer angeblich "terroristischen Gruppe" angehören. Nach Amnesty-Informationen ist diese Gruppe jedoch nicht dafür bekannt, Gewalt anzuwenden.
Das Flüchtlingswerk der Vereinten Nationen (UNHCR) hat sich zudem besorgt über das Schicksal der in den vergangenen Wochen von Italien nach Libyen abgeschobenen Afrikaner gezeigt. Die Behörden in Tripolis verweigerten den Zugang zu den aus Italien abgeschobenen Flüchtlingen, kritisiert die Organisation. Diese würden vermutlich zwangsweise in ihre Heimatländer abgeschoben, ohne vorher Asyl beantragen zu können.