Machtkampf um die russische Wissenschaft
11. November 2019Kürzlich ging ein Aufschrei durch russische Akademikerkreise. Der Bildungsminister ordnete an, dass Wissenschaftler jede Begegnung mit Forschern aus dem Ausland anmelden müssen - ein klarer Vorstoß, um den Kontakt mit ausländischen Kollegen einzuschränken.
"Wissenschaft ist nicht russisch oder ausländisch, sondern Ergebnis gemeinsamer Anstrengungen", kommentierte die Wissenschaftsjournalistin Irina Jakutenko auf Facebook. Die restriktive Anweisung gleiche Praktiken aus der Sowjetunion.
Dabei möchte der Kreml Russland wieder zu neuer Größe verhelfen. Bis 2024 soll das Land in die fünf führenden Wissenschaftsnationen aufsteigen. Wie steht es tatsächlich um die russische Wissenschaft?
Fast keine Hochschule ohne Korruption
Die staatliche Lomonossow-Universität thront auf den Sperlingsbergen über der Hauptstadt. Sie gilt als eine der wichtigsten Ausbildungsstätten des Landes. Bei seiner Fertigstellung 1954 war das stalinistische Gebäude mit 240 Metern das weltweit höchste außerhalb Nordamerikas. Hier und an den rund 950 weiteren Hochschulen beginnen jedes Jahr über 200.000 Menschen ihr Studium.
Ginge es nur nach Zahlen, wäre Russland schon jetzt eine große Wissenschaftsnation. Knapp 63 Prozent der 25- bis 34-Jährigen besitzen einen Hochschulabschluss. Nur Südkorea hat einen höheren Akademikeranteil. Ein Abschluss sagt allerdings nicht unbedingt etwas über den Bildungsstand aus. Denn viele Hochschulen senkten ihre Studienanforderungen, um möglichst viele gebührenzahlende Studierende aufzunehmen - so linderten sie die Finanzierungsnot, in die sie nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion geraten waren.
Auch Korruption erhält die Universitäten finanziell am Leben. Schätzungen zufolge wird in Russland jährlich mehr als eine halbe Million gefälschter Abschlüsse verkauft. Für den Arbeitsmarkt bleiben damit persönliche Kontakte wichtiger als Qualifikationen auf dem Papier.
Aufsichtsbehörde schließt willkürlich Hochschulen
Auf der anderen Seite Moskaus steht ein anderes Staatsgebäude. Viel kleiner als die Lomonossow-Universität, hellgelb und unscheinbar sitzt hier Rosobrnadsor - die Föderale Aufsichtsstelle im Bereich Bildung und Wissenschaft. Sie lizensiert die Bildungseinrichtungen und hat entsprechend viel Macht. Bei kleinsten formalen Verstößen kann sie Universitäten schließen.
Das bekam die Europäische Universität in St. Petersburg zu spüren. Die private Einrichtung gilt in Russland als Insel liberalen Denkens. Unter einem Vorwand weigerte sich Rosobrnadsor im Herbst 2017, die Lizenz zu verlängern. Die Belegschaft musste das Gebäude räumen und den Bildungsbetrieb einstellen. Doch Studierende protestierten gegen die Schließung und unabhängige Medien berichteten darüber. Nach einem Umbau des Kabinetts 2018 durfte die Universität ihren Betrieb wieder aufnehmen.
Das blieb nicht der einzige Kampf zwischen freien Bildungsstätten und dem russischen Staat. Im Sommer 2018 entzog Rosobrnadsor der renommierten Higher School of Social and Economic Sciences in Moskau die Erlaubnis, staatliche Diplome auszustellen. Die Ausbildung entspräche nicht den akademischen Standards Russlands.
Wer unbequem ist, fliegt
Nicht nur Universitäten, auch Wissenschaftler sehen sich Repressionen ausgesetzt. "In den vergangenen Jahren können Hochschullehrer immer seltener einen unabhängigen Standpunkt einnehmen", sagt Alexander Kynew, Politikwissenschaftler an der Higher School of Economics dem russischen Online-Medium Znak. "Immer wieder werden unbequeme Dozenten entlassen." Die Staat mache Druck auf die Universitäten, sich sogenannter "kritischer Elemente" zu entledigen.
Dass Geheimdienste sich in die Lehre einmischen wollten, sei mittlerweile normal geworden, berichtet Kynew. "Außerdem gibt es auch innerhalb der Hochschulen ständig Intrigen." Um unliebsame Konkurrenten loszuwerden, nutzten einige Wissenschaftler Beschwerden der Staatsmacht als Vorwand. Unter solchen Bedingungen könne keine unabhängige Forschung existieren. "Wenn die Loyalität zuerst kommt, zerstört das jede Form der freien Wissenschaft."
Der Kreml politisiert die Wissenschaftsakademie
Die Russische Akademie der Wissenschaften schimmert golden hinter dem Gorki-Park, ihre Architektur erinnert an ein retrofuturistisches Filmset. Doch das Gebäude ist zu einem Symbol sowjetischer Stagnation geworden.
Zar Peter der Große gründete die Wissenschaftsakademie 1724. Heute fungiert sie als Netzwerk für mehr als 700 Institute im ganzen Land. Von rund 100.000 Mitarbeitenden ist die Hälfte an Forschung beteiligt. Lange Zeit war die Akademie die wichtigste Autorität im Bereich der Wissenschaftspolitik.
Diese Autorität begann 2013 zu bröckeln. Damals schränkte die russische Regierung die Befugnisse der Akademie ein, indem sie die Kontrolle über Finanzen und Verwaltungsstrukturen einer staatlichen Institution übertrug.
Der Kampf um die Eigenständigkeit der Akademie dauert an. 2017 schrieben rund 400 russische Wissenschaftler einen Brandbrief an Präsident Wladimir Putin. Die Regeln der Kontrollinstitution ignorierten die "kreative und forschende Natur der Wissenschaftler komplett". Es sei untragbar, dass die Politik Forschern vorgäbe, wie viele Entdeckungen sie machen und wie viele Artikel sie veröffentlichen müssten.
Immer mehr Wissenschaftler emigrieren
Die staatlichen Regeln der Mittelvergabe führen zu absurden Resultaten. Die Zahl akademisch mangelhafter Publikationen nimmt zu und wird sogar vom Staat gefördert. Denn um Fördergelder abzugreifen, publizieren immer mehr russische Wissenschaftler Artikel, die weder Erkenntnisse liefern, noch wissenschaftlichen Standards entsprechen. Es gibt mittlerweile in Russland einen Markt für sogenannte Spam-Publikationen. Gegen Bezahlung veröffentlichen sie jeden Text, ohne akademische Gütekriterien zu prüfen. Die Universitäten profitieren davon. Sie steigen mit höheren Publikationszahlen in den Ranglisten nach oben.
All diese Entwicklungen in der russischen Wissenschaft haben zur Folge, dass immer mehr akademische Talente sich ins Ausland absetzen. Mehr als zehn Millionen der rund 144 Millionen russischen Staatsbürger lebten 2017 im Ausland - das sind sieben Prozent der russischen Bevölkerung. Solange die Wissenschaft unfrei bleibt, akademische Arbeit entwertet wird und Quantität vor Qualität geht, ist ihre Rückkehr ungewiss.