Wie Industriekultur uns prägt
16. Dezember 2019"Die industrielle Entwicklung zwingt uns immer mehr zur Selbstoptimierung", sagt Heinrich Moritz Jähnig, Kurator der Ausstellung "Der optimierte Mensch", die derzeit in Leipzigs Museum der bildenden Künste zu sehen ist. Sie habe nicht nur Auswirkungen auf die Arbeit, sondern auch auf den Alltag. "Wir lassen uns Chips in unsere Körper implantieren, wir lassen von einem Armband unsere Schritte zählen."
Vertrauen in die Technik, um als Mensch immer besser zu funktionieren - in der sogenannten Industriekultur 4.0 unserer modernen Zeit ist das an der Tagesordnung. Jähnig macht das auch ein bisschen Angst: "Was noch alles auf uns zukommt, lässt sich nur erahnen", sagt er.
Ein Grund für den Verein Industriekultur Leipzig e.V., der industriellen Entwicklung nachzuspüren - beginnend bei ihren Anfängen: Die ausgestellten Werke ermöglichen den chronologische Gang durch die Epochen und zeigen den zeitgenössischen Umgang der Künstler mit den Entwicklungen im Zeitalter der Dampfmaschine, der Elektrifizierung, der Automatisierung und der Digitalisierung.
Industriekultur 1.0
Die Industrielle Revolution, die im späten 18. Jahrhundert in England ihren Anfang nahm und sich in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts fast überall durchsetzte, prägt die Menschen bis in die Gegenwart hinein. Insbesondere die Erfindung der Dampfmaschine ist maßgeblich für diese Zeit: Sie machte es möglich, Energie mechanisch zu erzeugen und umzuwandeln und legte so den Grundstein für die Massenproduktion unterschiedlichster Güter. Aus einer Agrar- wurde die Industriegesellschaft. Mühselige Arbeitsabläufe wurden teilmechanisiert, es entstanden zahlreiche Fabriken.
Immer mehr Menschen zogen damals in die Städte, weil sie in den Fabriken eine Anstellung fanden. Das führte zu Wohnungsnot in den Ballungszentren, außerdem mussten die Arbeiter meist für kleinen Lohn schuften. Denn die Unternehmer, die nur am Gewinn interessiert waren und sich gegen die Konkurrenz am Markt behaupten mussten, interessierten sich für ihre Lohnarbeiter nur insofern, als dass sie möglich wenig Kosten verursachen sollten.
Die Unzufriedenheit der Menschen wuchs, und es dauerte nicht lange, bis die ersten Streiks die Produktionsstätten lahmlegten. Die Menschen verlangten mehr Geld und bessere Arbeitsbedingungen. Es ist die Zeit, als Karl Marx und Friedrich Engels ihr "Kommunistisches Manifest" (1848) vorlegen. Der moderne Kapitalismus sei geprägt von Ausbeutung, Unterdrückung und der politischen Herrschaft der Bourgeoisie, die die Produktionsmittel besitzen, so ihre These. Ihr berühmter Schlachtruf: "Proletarier aller Länder vereinigt euch."
Kampf der Gewerkschaften
Doch es wird noch einige Zeit dauern, bis in den 1860er Jahren die ersten dauerhaften Gewerkschaften entstehen. Und es sind nicht die Ärmsten der Armen, die zu Vorkämpfern für eine Arbeiterorganisation werden. Tagelöhner und Heimarbeiter haben weder die Erfahrung noch das Selbstbewusstsein oder gar die finanziellen Möglichkeiten, für ihre Rechte zu kämpfen. Auch ist die Zahl der Arbeiter in der Industrie um die Jahrhundertmitte noch relativ klein. Stattdessen organisieren sich vor allem Handwerker, die damit hadern, dass ihre Arbeit zunehmend von Maschinen bewältigt wird. So konnte zum Beispiel eine Spinnmaschine zu Beginn des 19. Jahrhunderts so viel Garn erzeugen wie 200 Arbeiter vor ihrer Erfindung. Erst im Zuge einer scharfen Klassenkonfrontation zwischen Betriebseigentümern und Arbeitern, die auch politisch für Zündstoff sorgte, verbesserte sich im Lauf der Jahrzehnte der Lebensstandard der Lohnabhängigen.
Reichtum hier, Armut dort
Im ersten Teil der Ausstellung wird diese Epoche aus verschiedenen Blickwinkeln gezeigt. So wurde etwa die Büste des deutschen Eisenbahnpioniers Gustav Harkort im Jahr 1882 ganz in der Tradition altmeisterlicher römischer Skulpturen geschaffen, um Glanz und Ruhm der Zeit zu präsentieren. Gustav Harkort lies in Leipzig und Umgebung das Schienennetz ausbauen und gründete Speditionsunternehmen, später dann mit der Kammgarnspinnerei die erste Leipziger Aktiengesellschaft. Sein Bruder Friedrich, ebenfalls erfolgreicher Unternehmer, gilt als Gründer des Ruhrgebiets.
Der deutsch-britische Maler und Bildhauer Hubert von Herkomer hingegen setzte sich schon 1884 mit den negativen Folgen der frühen Industrialisierung auseinander: Sein Gemälde zeigt Menschen, die die Armut zum Auswandern zwingt: Wirtschaftsflüchtlinge aus Polen, Tschechien und Südosteuropa, die sich in Leipzig sammeln, um von dort aus weiter zum Hamburg Hafen zu fahren und dann per Schiff nach Amerika weiterzureisen.
Industriekultur 2.0
Um 1900 begann die sogenannte zweite Industrielle Revolution: Die Erfindung der Glühbirne, des Generators, des Verbrennungsmotors und insbesondere von Fließbändern war bahnbrechend für die großindustrielle Massenproduktion. Erdöl wurde zu einem Grundstoff der chemischen Industrie und ermöglichte die Herstellung von Benzin und in der Folge den Ausbau der Autoindustrie.
Dieser Schwerpunkt der Ausstellung, die Elektrifizierung, wurde 1948 eindrucksvoll von Elisabeth Voigt umgesetzt, die das beängstigende Gemälde "Der Maschinenmensch (Der Unternehmer)" schuf. Scheinbar gefühllos sitzt die an Apparaturen angeschlossene Gestalt da und erinnert an einen frühen Cyborg. Ebenfalls kritisch sind die sechs Pinselzeichnungen Emil Noldes aus dem Jahr 1934, die - zwischen Milieuschilderung und parteipolitischer Kampfansage - die Entwicklung des Arbeiters zum klassenbewussten Kämpfer festhalten.
Digitalisierung - und dann?
Mitte der 1970er Jahre setzte schließlich die dritte industrielle oder auch digitale Revolution ein. Der Computer mit all seinen Facetten hat einen Wandel in nahezu allen Lebensbereiche bewirkt - und ein Ende ist noch nicht in Sicht. Im Ausstellungsbereich "Industrie 3.0 - Zeitalter der Automatisierung" spielen Tagebau und Schichtarbeit eine Rolle, verkettet mit frühen Computern, wie etwa Norbert Wagenbretts Bildnis "Brigade I" aus dem Jahre 1989 widerspiegelt.
Ihren (freilich nur vorläufigen) Abschluss findet die Optimierung des Menschen im "Industrie 4.0 - Zeitalter der Digitalisierung". Die zeitgenössischen Werke, darunter Jana Mertens Aluminiumplastik "Kämpha", eine Menschmaschine, oder Jannine Kochs Gemälde "Präventivschlag, unbemannt" fragen nach der Verantwortung des Menschen beim Einsatz künstlicher Intelligenz.
Hommage an Gottfried Wilhelm Leibniz
Ebenfalls in der Ausstellung präsent: der Leipziger Universalgelehrte Gottfried Wilhelm Leibniz (1646- 1716), Philosoph, Historiker, Jurist und Mathematiker. Als solcher setzte er schon vor über 300 Jahren auf die binäre Codierung des Dezimalsystems, auf die heute jeder Computer aufbaut, und schuf so den Grundstein für die Entwicklungen der Neuzeit. "Deren Konsequenzen", so die Aussteller, "sind für die Zukunft nicht abzusehen".
Die Ausstellung "Der optimierte Mensch" läuft noch bis zum 1. März 2020 im Museum der bildenden Künste in Leipzig.