Der Skandal in der Nuklearkatastrophe
24. März 2011Seit dem 26. April 2007, dem 21. Jahrestag der Atomkatastrophe in Tschernobyl, stehen an der Auffahrt zur Zentrale der Weltgesundheitsorganisation (WHO) in Genf zwei bis drei Menschen mit einem Transparent und Flugblättern. Jeden Tag, bei Hitze, Regen, Schnee oder Kälte. Die Demonstranten fordern von der WHO die Aufkündigung eines über 50 Jahre alten Abkommens mit der Internationalen Atomenergie-Organisation (IAEO) in Wien, deren Hauptauftrag es ist, "die Nutzung der Atomenergie für Frieden, Gesundheit und Wohlstand in der ganzen Welt zu fördern und zu verbreiten".
Dieses Abkommen ist nach Überzeugung informierter Beobachter dafür verantwortlich, dass die WHO angesichts der Nuklearkatastrophe im japanischen Fukushima erneut ihre Verantwortung für die Gesundheit der betroffenen Menschen nicht wahrnimmt. Dass sie genauso versagt wie bereits nach der Katastrophe in Tschernobyl oder nach den Einsätzen von Uranmunition in den Kriegen gegen Irak 1991 sowie gegen Serbien 1999.
Geheimes Abkommen
In dem fast vierzig Jahre erfolgreich geheim gehaltenen Abkommen mit der IAEO vom Mai 1959 verpflichtete sich die WHO dazu, "bevor sie ein Forschungsprogramm oder eine Maßnahme einleitet" zu Folgen radioaktiver Strahlung "die IAEO zu konsultieren, um die betreffende Frage einvernehmlich zu regeln".
Für den US-amerikanischen UNO-Korrespondenten Robert James Parker, der seit Jahren intensiv zu dem Thema recherchiert, ist "dieses Abkommen und die daraus resultierende Selbstzensur der WHO einer der größten Skandale des UNO-Systems".
Dürre Wort seit der Katastrophe in Japan
Seit Beginn der Nuklearkatastrophe in Japan am 11. März 2011 bemühen sich Parker und einige seiner Genfer Korrespondenten-Kollegen beharrlich, um Informationen von der WHO zu möglichen gesundheitlichen Auswirkungen sowie zu Maßnahmen zum Schutz der Bevölkerung zu erlangen.
Nach einwöchigem Schweigen verlas der Sprecher des "WHO-Teams für aktuelle Krisen", Gregory Härtl am letzten Freitag (18.03.2011) vor den Genfer Journalisten einige dürre, zuvor bereits von den japanischen Behörden und der IAEO verbreitete Informationen. Anfragen zu einem ausführlicheren Interview insbesondere zur Frage der radioaktiven Verseuchung von Nahrungsmitteln, ließ Härtl unbeantwortet. Am Montag (21.03.2011) äußerte ein Sprecher der WHO in Peking vorsichtige Sorgen über eine erhöhte radioaktive Strahlung in China.
Messen statt aufklären
Am Mittwoch (23.03.2011) schließlich veröffentlichten WHO, IAEO sowie die UN-Nahrungsmittel- und Landwirtschaftsorganisation (FAO) ein gemeinsames Kommunique. Dem "Risiko radioaktiver Strahlung" werde "erhöhte Aufmerksamkeit geschenkt", versichern die drei Organisationen. Sie teilen mit, dass "einige Nahrungsmittelproben aus der Präfektur Fukushima sowie aus umliegenden Gebieten radioaktiv kontaminiert" seien, stellen aber zur Beruhigung fest, es gebe "in Japan Bestimmungen, die es den Behörden ermöglichen, Obergrenzen für den Gehalt von Radioaktivität in Nahrungsmitteln festzulegen". Die Nahrungsmittel würden "überwacht, Radioaktivitätswerte gemessen und die Ergebnisse veröffentlicht". Von eigenen Empfehlungen und Maßnahmen ist in dem Kommunique der drei Organisationen keine Rede. Ein eigenes Team hat die WHO bis heute in Japan nicht vor Ort.
Versagen der WHO
Die Internationale Ärztevereinigung zur Verhütung eines Atomkrieges (IPPNW) wirft der Weltgesundheitsorganisation inzwischen eklatantes Versagen vor. "Die Reaktion der Weltgesundheitsorganisation auf die atomare Katastrophe von Fukushima ist völlig unzureichend", erklärte Dr. Angelika Claußen, die Vorsitzende der deutschen IPPNW-Sektion.
Statt sich auf die IAEO und die japanischen Behörden zu verlassen, sollte die WHO endlich eigenständige Maßnahmen ergreifen "und die Bevölkerung in Japan ungeschönt und objektiv über die gesundheitlichen Auswirkungen der Fukushima-Katastrophe und eine mögliche Kernschmelze informieren", forderte die IPPNW-Vorsitzende. Vor allem müsse sich die WHO "jetzt für eine Evakuierung der Frauen, Kinder und der schwangeren Frauen aus den betroffenen Regionen aussprechen, weil diese Menschen besonders strahlensensibel sind".
Opferzahlen kleingerechnet
Für die IPPNW ist das Versagen der WHO nur erklärbar "durch das Abkommen mit der IAEO, die die Risiken der Atomenergie seit Jahren herunterspielt". So bezifferte die IAEO die Opfer des Super-GAUs von Tschernobyl auf weniger als 50 Tote. Die WHO spricht bis heute von 9.000 Menschen, die aufgrund der Strahlenexposition "sterben könnten". Erst Ende Februar 2011 hat der Wissenschaftliche Ausschuss der Vereinten Nationen zur Untersuchung der Auswirkungen der atomaren Strahlung (UNSCEAR) sich diese Zahlen erneut zueigen gemacht.
Dagegen stehen zahlreiche Untersuchungen unabhängiger Wissenschaftler, unter anderen die des promovierten Biologen Alexej Jablokow, Mitglied der Russischen Akademie der Wissenschaften. 2009 veröffentlichte Jablokow umfangreiche Daten und Untersuchungsergebnisse über die gesundheitlichen und ökologischen Folgen von Tschernobyl. Allein bei den 830.000 Liquidatoren gebe es bisher 112.000 bis 125.000 Tote.
Gegen bekanntes Wissen
WHO-intern ist ein Großteil der Daten über das wahre Ausmaß der Tschernobyl-Katastrophe durchaus bekannt. Denn die Weltgesundheitsorganisation war Hauptorganisator der beiden UN-Konferenzen zum Thema Tschernobyl, die 1995 in Genf und 2001 in Kiew stattfanden.
Doch die Protokolle sowie fast sämtliche Referate dieser beiden Konferenzen wurden von der WHO wegen des Einspruchs der IAEO bis heute nicht veröffentlicht - entgegen anderslautender Behauptungen von WHO-Sprecher Härtl. Veröffentlicht wurden lediglich eine Zusammenfassung der in Kiew gehaltenen Vorträge sowie zwölf von mehreren hundert Redemanuskripten, die für die Genfer Konferenz eingereicht wurden.
Entlassung statt Wahrheit
Auch nach dem 2. Golfkrieg gegen den Irak im Frühjahr 1991 sowie dem Luftkrieg der NATO gegen Serbien/Montenegro 1999 nahm die WHO ihre Verantwortung nicht wahr. In beiden Kriegen setzten die US-Streitkräfte massiv durch abgereichertes Uran gehärtete Munition ein. In den am stärksten mit dieser Munition beschossen Regionen im Südirak stellten die lokalen Ärzte einige Jahre nach dem Krieg einen Anstieg der Krebs- und Leukämiefälle sowie der Missbildungen bei Neugeborenen um das Zehnfache fest.
Doch die WHO wies alle Forderungen, im Irak eine unabhängige, internationale Untersuchung durchzuführen, zurück. Im Falle Serbien/Montenegro ließ die WHO nach Aufforderung durch das UNO-Hochkommissariat für Flüchtlinge zwar einen eigenen Wissenschaftler ein internes Gutachten erstellen. Dieses Gutachten, das die schlimmsten Befürchtungen bestätigt, wird bis heute unter Verschluss gehalten. Der Wissenschaftler wurde entlassen, ebenso wie der stellvertretende UNO-Hochkommissar für Flüchtlinge, dem er eine Kopie des Gutachtens übergeben hatte.
Autor: Andreas Zumach
Redaktion: Ulrike Mast-Kirschning