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Der Wandel der deutschen Holocaust-Literatur

Sigrid Löffler26. Januar 2005

Wie kann man über die Shoa schreiben? Gibt es überhaupt eine Sprache für das Unfassbare? Die Literaturkritikerin Sigrid Löffler gibt einen Überblick über die Holocaust-Literatur und ihren Wandel in jüngster Zeit.

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Autor eines Grundtextes zum Holocaust: Primo LeviBild: dpa

Am 27. Januar 1945 wurde der Italiener Primo Levi in Auschwitz von den Russen befreit; am 11. April 1945 befreiten die Amerikaner den Spanier Jorge Semprún in Buchenwald. Beide Männer, Levi und Semprún, gehorchten nach ihrer Rückkehr in die Heimat einem übermächtigen Impuls, nämlich dem: Zeugnis abzulegen von dem Ungeheuerlichen, das sie in den deutschen Konzentrationslagern erlebt - und wider Erwarten überlebt hatten. Beide schrieben ihre noch frischen Erinnerungen nieder.

Primo Levi ist der erste Auschwitz-Überlebende, der ein Buch über seine Erfahrungen veröffentlichte: sein Bericht "Ist das ein Mensch?" erschien im Herbst 1947. Auch wenn Levis Zeugnis damals auf völlige Gleichgültigkeit stieß und praktisch nicht wahrgenommen wurde, gilt dieses Buch doch mittlerweile als einer der Grundtexte dessen, was man heute Holocaust-Literatur nennt. Mehr noch: seine unvergleichliche Balance zwischen Zeugenaussage, Rückerinnerung und Reflexion macht "Ist das ein Mensch?" zum besten, was zum Thema KZ geschrieben worden ist.

Quälende Niederschrift

Auch Jorge Semprún versuchte unmittelbar nach seiner Befreiung aus Buchenwald seine Erlebnisse aufzuschreiben. Ein halbes Jahr lang quälte er sich mit der Niederschrift. Aber anders als Primo Levi war es ihm damals unmöglich, seine Erfahrungen in eine gültige Form zu bringen. Er musste erst jahrelang vergessen, ehe er seine Erinnerungen wieder hervorholen konnte. Erst 1960 vermochte er sich seinen Erlebnisse zu stellen und konnte das erste seiner zahlreichen Bücher über das KZ Buchenwald schreiben - "Die große Reise".

In den Jahrzehnten seither hat die Holocaust-Literatur an Titeln, Autoren und Darbietungsformen ständig zugenommen. Legitimiert durch ihre Zeugenschaft und beglaubigt durch ihr Leiden haben Überlebende sich der literarischen Kreation von Erinnerung gewidmet, man denke an "Weiterleben. Eine Jugend" von Ruth Klüger, an den "Roman eines Schicksallosen" von Imre Kertész, an die Bücher von Edgar Hilsenrath, Louis Begley, Jerzy Kosinski, Tadeusz Borowski, Cordelia Edvardson, George Tabori, Aleksandar Tisma oder Victor Klemperer, um nur die berühmtesten Autoren von Erinnerungs- und Augenzeugenbüchern zu nennen.

Keine trennscharfe Grenze

Nach einer These Jan Assmanns entsteht ja Vergangenheit überhaupt erst dadurch, dass man sich auf sie bezieht. Vergangenheit steht nicht naturwüchsig an, Vergangenheit ist eine kulturelle Schöpfung. Da Erinnerung als ein Prozess der fortlaufenden Umschreibung und Umdeutung von Vergangenheit funktioniert und da Gedenken auch die laufende Interpretation der Geschehnisse mit einschließt, ist die Grenze zwischen den authentischen Zeugnissen Überlebender und der nachträglichen Literarisierung von Originalquellen nicht eindeutig und trennscharf zu ziehen.

Die Augenzeugen selbst haben ihre Erinnerungen nicht selten eher fiktionalisiert als protokolliert. Jede Literarisierung bedeutet schon die Herstellung von artistischer Distanz. Erst mit dem Nobelpreis an Imre Kertész im Jahr 2002 ist diese besondere Erinnerungsliteratur, die im letzten halben Jahrhundert entstanden ist, endgültig in ihrer Besonderheit anerkannt und literarisch nobilitiert worden. Wenn die gelebte Erinnerung nicht verloren gehen und aus dem kollektiven Gedächtnis nicht verschwinden soll, dann muss sie aus der biografischen Reminiszenz in kulturelles Gedächtnis transformiert werden, dann muss die persönliche Erinnerung übergeführt werden aus dem erlittenen Zeitzeugnis in die dauerhafte Form der literarischen Konstruktion.

Paradigmen-Wechsel

Von daher kann man es auch nachgeborenen Autoren nicht verwehren, in die Gedächtnis-Archive der Zeitzeugen einzusteigen und sich auf deren Erinnerungen ihren eigenen literarischen Reim zu machen. In der Tat beobachten wir in der Holocaust-Literatur derzeit einen Paradigmen-Wechsel. Es sind nicht mehr nur die überlebenden Opfer selbst, die vom Holocaust erzählen. Immer öfter - und umso öfter, je unaufhaltsamer die letzten Augenzeugen wegsterben - gehen die Holocaust-Erzähler dazu über, statt von eigenen, von den Erinnerungen anderer zu zehren. Was nun vermehrt entsteht, ist eine Erinnerungsliteratur aus zweiter Hand.

Während die unvermittelte Erinnerung ins Archiv wandert und die Erinnernden verschwinden, tritt die vermittelte Erinnerung Nachgeborener in ihre Fußstapfen. Der Holocaust wird zum frei verhandelbaren Stoff, zum Gegenstand für Kunst wie auch für Kommerz. Wir stehen am heiklen Übergang von der Faktizität in die Fiktion, vom erlittenen Zeitzeugnis ins Nachfühlen, in die nachleidende Einfühlung Nachgeborener in der Phantasie. Was wir künftig zu gewärtigen haben, ist Holocaust-Fiction - von der sekundären Betroffenheitsliteratur bis zum sprachlichen Kunstwerk, aber auch bis hin zur Kommerzialisierung des Grauens als "Shoah-Business".

Ersteres - Qualitätsliteratur - wäre zu wünschen, letzteres - Kommerzliteratur - aber muss in Kauf genommen werden, wenn ein Schlüsselsatz jüdischen Denkens seine Gültigkeit bewahren soll, der Kernsatz in Yad Vashem, der Holocaust-Gedenkstätte in Jerusalem: "Vergessen verlängert das Exil; Erinnerung ist das Geheimnis der Erlösung."